Eine bittere Woche

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 25

Da staunte die Konkurrenz. Die SG Flensburg-Handewitt wappnete sich für das weiter aufgeblähte Spielprogramm und zeigte sich im Frühling 2015 sehr agil. Der auf 6,5 Millionen Euro angewachsene Etat sorgte für Rückendeckung bei der Verpflichtung erfahrener Bundesliga-Akteure. Rasmus Lauge war beim THW Kiel mit seinen Spielanteilen nicht einverstanden und blühte bei der SG schnell auf. Der wurfgewaltige Petar Djordjic kehrte nach zwei Jahren vom HSV Hamburg zurück und hatte mit Kentin Mahé einen hochbegabten Handballer im Schlepptau. Da Jacob Heinl wegen den Folgen einer Virus-Infektion auf unbestimmte Zeit ausfiel, schlugen die SG Verantwortlichen ein drittes Mal beim kränkelnden HSV Hamburg zu und lotsten Kreisläufer Henrik Toft Hansen an die Flensburger Förde.

Nach zwei lockeren Auftaktsiegen traf die SG im 84. Landesderby auf den THW Kiel. Lasse Svan traf bei neun Versuchen neun Mal und avancierte zum Mann des Tages. Nach dem 30:25-Erfolg sangen die Fans bereits: „Deutscher Meister wird nur die SGW!“ Nicht nur Holger Glandorf drückte auf die Euphoriebremse: „Ganz ruhig bleiben, wir haben noch viel Arbeit vor uns.“ Das bestätigte sich bereits wenige Tage später beim hauchdünnen 22:21-Erfolg in Hamburg. 15 Zeitstrafen, zwei rote Karten, 17 Siebenmeter und nur 43 Tore – so lautete die statistische Ausbeute. Was noch niemand ahnte: Diese umkämpfte Bundesliga-Partie wurde im Januar annulliert, als sich der HSV Hamburg aus finanziellen Gründen verabschiedete.

Rückschläge nach Trainer-Personalie
Ljubomir Vranjes saß bei der SG ganz fest im Sattel. Ein neuer Vertrag mit einer Laufzeit bis 2020 wurde besiegelt, was der Öffentlichkeit am 12. September 2015 mitgeteilt wurde. Wenige Stunden später befleckte eine 32:33-Heimniederlage gegen die MT Melsungen die Tagesbilanz. Nur 72 Stunden später haderte die SG mit ihrer Chancenverwertung und erlitt bei der HSG Wetzlar den nächsten Rückschlag. Eine Woche später waren es schon fünf Minuspunkte. Im Heimspiel gegen die Füchse Berlin hätte es sogar noch schlimmer kommen können, wenn die Schiedsrichter in der Schlussphase nicht so schnell die passive Spielweise der Gäste geahndet hätten. So rettete Henrik Toft Hansen mit dem Abpfiff noch ein 30:30-Remis.

Aufstockung der Champions League
In der Bundesliga lief die SG ihren eigenen Vorstellungen hinterher, da musste sie sich auch in der Champions League bewähren. Die europäische Königsklasse war aufgestockt worden, die besten Klubs tummelten sich nun in Achter-Gruppen mit insgesamt 14 Paarungen. Die SG startete mit einem Paukenschlag: ein 39:32 über den Top-Favoriten Paris Saint-Germain. Eine Woche später schnupperte die SG im „Hexenkessel von Veszprém“ an einer Überraschung und musste sich erst in der Schlussphase geschlagen geben. Dabei überraschte Ljubomir Vranjes zeitweise mit einer offensiven 3:3-Deckung oder einer Angriffsformation mit vier Rückraumspielern. Der Coach nutzte die internationale Bühne gerne als Experimentierkiste. In Kiel – auch in der Champions League trafen die Landesrivalen schon aufeinander – ersetzte Hampus Wanne den internen Torschützenkönig Anders Eggert, während Stammkeeper Mattias Andersson diesmal Kevin Møller den Vortritt lassen musste. Das europäische Landesderby ging zwar verloren, danach hielt sich die SG in der Champions League aber schadlos und lag zu Weihnachten an erster Stelle.

14 Siege in Folge
Zwei Sorgenkinder verfolgten die Siegesserie von der Tribüne aus. Jim Gottfridsson laborierte an einer knöchernen Blessur am Mittelfuß. Bei Anders Zachariassen riss das Kreuzband. Damit stand nur noch ein einsatzfähiger Kreisläufer im Kader: Henrik Toft Hansen. Die SG Offiziellen wurden tätig, entdeckten im österreichischen Hard den Kroaten Kresimir Kozina. Wettbewerbsübergreifend glückten 14 zum Teil sehr glatte Erfolge in Reihe. So fühlten sich alle für das Spitzenspiel am 2. Dezember 2015 gegen die Rhein-Neckar Löwen gestählt. Wunderkerzen und stehende Ovationen prägten die Atmosphäre vor dem Anpfiff. Doch schon Ende der ersten Halbzeit regierte der Frust. Die SG hatte sich auf 6:0- und 3:3-Defensiven vorbereitet, aber nicht auf die weitgehend fabrizierte 5:1-Formation. Die Rhein-Neckar Löwen siegten mit 32:25. Statt dem Tabellenführer im Nacken zu sitzen, vergrößerte sich der Rückstand auf fünf Zähler.

Rekordsieg gegen den THW Kiel
Nach der EM-Pause ging es gleich gegen den THW Kiel, abermals in der Champions League. Jubel-Arien beherrschten die „Hölle Nord“. Das 37:27 war ein Rekordergebnis in der langen Historie des Nordduells. Und dann feierte Jacob Heinl nach einer Abwesenheit von 14 Monaten ein traumhaftes Comeback: Einwechslung, stehende Ovationen, Gegenstoß und Tor. Mit dem Derby-Rückenwind gelang die Revanche bei den Rhein-Neckar Löwen. Die SG trennte nur noch ein Punkt von der Bundesliga-Tabellenführung. „Ich halte daran fest, was ich schon im August prognostiziert habe“, sagte SG Manager Dierk Schmäschke. „Die Meisterschaft wird erst am Ende der Saison entschieden.“

Viertelfinal-Einzug zum Trainer-Jubiläum
Vorerst rückte die Champions League in den Mittelpunkt des Interesses. Die SG lag auch nach zwölf von 14 Spieltagen an der Spitze der Gruppe A und versuchte ihren Vorsprung vor der starken Konkurrenz aus Ungarn und Frankreich zu retten. Die Begegnung gegen Veszprém hatte einen hochklassigen Charakter, die Nordlichter ernteten viel Lob. „Meine Mannschaft hat sich am Optimum bewegt, hat das gezeigt, was sie im Moment leisten kann“, sagte Ljubomir Vranjes. „Aber Gratulationen nach einer Niederlage sind schon merkwürdig.“ Das 28:29 war ebenso knapp wie unglücklich. Der Traum vom Gruppensieg und einem freien Osterwochenende war geplatzt. Da musste sich die SG durch das Achtelfinale mühen und begab sich dafür zunächst nach Montpellier. Johan Jakobsson stellte mit dem Schlusspfiff den 28:27-Erfolg sicher. Beim Rückspiel saß Ljubomir Vranjes zum 300. Mal als Chefcoach auf der Bank. Auch wenn Lasse Svan und Anders Eggert pünktlich zur Halbzeit einen Kempa-Trick inszenierten, fiel die Gala aus. Der französische Vize-Meister blieb stets dran, konnte das Ruder aber nicht mehr herumreißen.

Ein Wahnsinnsprogramm und ein wahnsinniger Pfiff
Die zweite April-Hälfte 2016 konfrontierte den noch amtierenden Pokalsieger mit einem hammerharten Programm im Drei-Tages-Rhythmus. In Magdeburg erreichte die SG ein 23:23-Unentschieden und ließ im Meisterrennen ihren neunten Punkt liegen. Drei Tage später das nächste Remis: ein 28:28 gegen Kielce. Dennoch reiste der Bundesligist mit Zuversicht zum zweiten Viertelfinale nach Ostpolen. Es wurde eine ebenso dramatische wie denkwürdige Partie. Kielce hatte kurz vor Schluss das 29:28 erzielt, musste aber wegen der Auswärts-Tore-Regelung die letzten Sequenzen der Partie schadlos überstehen. Drei Sekunden vor Ultimo hatte die SG den Ball und eine 6:4-Überzahl. Die Räume waren groß. Thomas Mogensen tauchte plötzlich am Kreis auf, erwischte das Anspiel von Rasmus Lauge. Da wurde er geschubst und zu Fall gebracht. Die französischen Schiedsrichter ließen die Szene laufen und beendeten die Partie. Ein ausgebliebener Pfiff hatte alle Träume von der Königsklassen-Endrunde in Köln zerstört.

Eine emotionale Berg- und Talfahrt
Mit Wut im Bauch reiste der SG Clan nicht etwa in ein freies Wochenende, sondern nach Hamburg zum Final Four um den DHB-Pokal. Die Mannschaft zeigte eine tolle Moral, bot den Rhein-Neckar Löwen die Stirn und setzte sich nach Verlängerung mit 31:30 durch. Aber womöglich war das Halbfinale um 35 Sekunden zu lang, um auch im Endspiel in der Erfolgsspur zu laufen: Denn Rasmus Lauge leistete sich eine Unbeherrschtheit, traf Gegenspieler Patrick Groetzki bei einer Rangelei am Boden im Gesicht. Die Unparteiischen verhängten eine „Disqualifikation mit Bericht“, die eine automatische Sperre von einem Pflichtspiel nach sich zog. Was da noch niemand wusste: Der Däne hatte sich bereits in Kielce schwer am Meniskus verletzt, musste operiert werden und fiel mehrere Monate aus. Ohne Rasmus Lauge hieß es im Finale gegen Magdeburg schnell 1:6. Die SG hatte keine Chance und erlebte den nächsten  sportlichen Tiefschlag, der aus den physischen Belastungen der emotionalen Berg- und Talfahrt in den vergangenen Tagen resultierte.

Ein zweiter Sieg in Kiel
Eine Woche später spendeten 6300 Zuschauer in der „Hölle Nord“ stehende Ovationen. Mit einem 32:25-Erfolg über Göppingen meldete sich die SG zurück und hegte in der Bundesliga weiterhin meisterliche Träume, die sich mit dem Derby-Sieg beim THW Kiel weiter verstärkten. Erstmals überhaupt gewann die SG binnen einer Saison zwei Mal in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt. Die Rhein-Neckar Löwen allerdings wackelten nicht mehr und trugen ihren Vorsprung ins Ziel. Die SG blieb damit erstmals seit 2011 ohne Titel. Ljubomir Vranjes hielt dagegen: „Seitdem ich Trainer bin, war die Mannschaft spielerisch noch nie so stark wie jetzt.“

Folge 26 am Montag: Das Tal der Tränen