Ein meisterlicher Umbruch

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 28

Im September 2018 überquerte das Goldene Buch Flensburgs erstmals die Stadtgrenze. In der Handewitter Wikinghalle fand eine Feierstunde zu Ehren der Meister statt. Nach und nach unterzeichneten die Handballer der SG Flensburg-Handewitt auf dem edlen Papier. Darunter waren auch die sechs Neuzugänge, die gar nicht ihr Scherflein zum Titel beigetragen hatten. „Das kann ja noch werden“, schmunzelte manch einer der Gäste. Zu diesem Zeitpunkt war die SG mit 8:0 Punkten sehr gut in die neue Saison gestartet. Die Handball-Szene rechnete allerdings nicht mit dem Titelverteidiger, denn nicht weniger als sechs Spieler, darunter Vereinslegenden wie Thomas Mogensen und Jacob Heinl oder Torwart-Ikone Mattias Andersson, waren aus der Erfolgstruppe ausgeschieden.

SG Coach Maik Machulla hatte ein Novum in der Vereinsgeschichte zu verwalten: Sonst war maximal ein Torhüter vor einer Saison auszutauschen, nun erstmals ein komplettes Gespann. Der Bosnier Benjamin Buric (Wetzlar) und der Norweger Torbjørn Bergerud (Holstebro) bildeten das neue Keeper-Duo, das eine große Bandbreite an Qualitäten versprach. Linksaußen Magnus Jøndal (GOG) stieg volle Kraft in die Vorbereitung ein und bewegte sich relativ schnell mit Platzhirsch Hampus Wanne auf Augenhöhe. Viel Arbeit musste in die Defensive gesteckt werden. Die beiden neuen großgewachsenen Kreisläufer Simon Hald (Aalborg) und Johannes Golla (Melsungen) galten naturgemäß als heiße Kandidaten für den Mittelblock. Abwehrchef Tobias Karlsson war als Bindeglied zwischen Deckung und neuen Torhütern besonders gefordert. Gøran Johannessen (GOG), der sechste Neuzugang, entwickelte sich zum Pechvogel. Zunächst musste der norwegische Spielmacher am Sprunggelenk operiert werden, dann brach er sich bei einem Autounfall die Nase. Er fiel bis Oktober aus.

Ein Traumstart
Das neue Kollektiv musste sich erst einmal finden. Die Vorbereitung brachte zum Teil ernüchternde Ergebnisse. Beim Super Cup startete die SG als deutscher Meister, musste den Pokalsieger, die Rhein-Neckar Löwen in der zweiten Hälfte ziehen lassen. Beim Bundesliga-Auftakt in Minden brachte die SG die Punkte mit Mühe nach Hause. Das Wiedersehen mit Göppingen nur drei Monate nach dem Meisterschafts-Showdown sorgte für ein erstes Ausrufezeichen. Beim 26:15-Erfolg arbeiteten die 6:0-Deckung und Benjamin Buric erstmals phänomenal zusammen. Dann der erste Paukenschlag: Die Nordlichter drehten in Berlin in der zweiten Hälfte auf und schlugen einen der vermeintlichen Titelkandidaten deutlich mit 30:25. Der Top-Favorit wartete am 8. September 2018. Das 1000. Bundesliga-Spiel seit 1984 war gleichzeitig ein Landesderby. Der THW Kiel hatte lange Zeit durchaus Vorteile. Mit der Einwechslung des jungen Kreisläufers Johannes Golla in den Mittelblock stabilisierte sich die Abwehr, die SG zauberte eine Vierer-Serie zum 21:17 auf die Platte. Dieser Vorsprung reichte: Nach dem 26:25 feierte die „Hölle Nord“ den Traumstart von 8:0 Punkten.

Ein interner Startrekord
Dank des neuen dänischen Trikotsponsors „Danfoss“ konnte ab sofort eine Chartermaschine vom Flugplatz Sonderborg eingesetzt werden. Die Premiere in Nantes endete mit einem furiosen 34:31-Erfolg, bei dem Magnus Rød mit acht Treffern zum Matchwinner avancierte. Der junge norwegische Linkshänder wurde immer stärker. Allerdings trübten schnell zwei Pleiten die Bilanz in der Champions League: In Celje erwies sich die Chancenverwertung als zu schlampig, gegen Zagreb hatte die Abwehr große Probleme gegen die konsequente Taktik der Kroaten mit sieben Feldspielern. In der Bundesliga bewahrten Glück und Nervenstärke die SG vor ersten Punktverlusten. Gegen Hannover verwandelte Hampus Wanne einen von Lasse Svan eingeleiteten Kempa-Trick zum 29:28. In Erlangen spielten die Gäste die letzte Minute clever herunter und retteten ein 27:26 über die Runden. In Leipzig sicherte ein Block der Abwehr den 21:20-Sieg. Perfekt war der vereinsinterne Startrekord von 20:0 Punkten.

Revanche gegen Magdeburg
Hochdramatisch ging es auch im Achtelfinale des DHB-Pokals zu. 5300 Zuschauer bangten mit ihren Jungs, weil der SC Magdeburg schon mit vier Toren vorne lag, hofften, weil der Ausgleich glückte, rauften sich die Haare, als Jim Gottfridsson die Führung verpasste und waren enttäuscht, als die 28:31-Niederlage besiegelt war. „Wir werden in Ruhe analysieren, woran es gelegen hat – und dann wieder aufstehen“, kündigte Maik Machulla an. Die Analyse war viel Wert, denn nur 15 Tage später tauchten die Magdeburger erneut in der „Hölle Nord“ auf und wollten auch zwei Bundesliga-Punkte entführen. Die SG rettete ein 26:25 über die Ziellinie. In der Bundesliga lief weiterhin alles rund. Die Rhein-Neckar Löwen drückte die SG in der zweiten Hälfte auf nur sechs Treffer. Das 27:20 war die beste Referenz für die 6:0-Defensive. Als Alternative funktionierte inzwischen eine 5:1-Formation mit Rasmus Lauge als Spitze. Gegen den Bergischen HC reparierte die SG einen 2:6-Fehlstart nach 17 Minuten und feierte erst als dritter Klub nach dem TBV Lemgo (2002/3) und dem THW Kiel (2011/12) eine makellose Hinrunde. Mit 38:0 Punkten schloss das Kalenderjahr. „Manchmal muss ich mich selbst kneifen angesichts der Top-Leistungen, die meine Mannschaft Woche für Woche abliefert“, bilanzierte Maik Machulla. „Die Ausgangssituation ist sicherlich so: Wir können Meister werden, der THW Kiel mit seinem Kader muss es werden.“ Die Konkurrenz aus der Landeshauptstadt lag nur vier Punkte zurück und hatte das bessere Torverhältnis.

Acht WM-Medaillen
Im Januar 2019 stand die Weltmeisterschaft im Mittelpunkt. Beim Turnier, das in Deutschland und Dänemark ausgetragen wurde, zeigte sich sehr bald, dass die glorreiche Hinserie der SG kein Zufall war. Als das Endspiel in Herning vor 15000 Zuschauern angepfiffen wurde, standen sich gleich acht Akteure des nördlichsten Bundesligisten gegenüber. Die Dänen Lasse Svan, Rasmus Lauge, Anders Zachariassen und Simon Hald errangen Gold, die Norweger Torbjørn Bergerud, Magnus Jøndal, Magnus Rød und Gøran Johannessen kehrten mit Silber zurück. Eine einmalige Ausbeute, die weiteren Rückenwind entfachte. Ende März standen 48:0 Punkte auf dem Konto. Die SG war damit seit einem Jahr in der Bundesliga ungeschlagen. In der Champions League war das Achtelfinale erreicht. Die SG dominierte gegen den HC Meshkov Brest, obwohl sich zwischen die beiden Partien die schwere Hürde von Magdeburg in den Terminplan einfügte. Dort fehlte der SG am Ende das Glück. Eine gute Minute vor Schluss mündete ein schöner Spielzug bei Magnus Jøndal, der frei in den Kreis sprang. Ärgerlich, dass ihn die Referees zurückpfiffen. Auf der Gegenseite das „goldenen Tor“ zum 23:24. Die SG war erstmals in dieser Bundesliga-Saison geschlagen.

Ein Meilenstein in Mannheim
Am 21. April 2019 führte die SG bei den Rhein-Neckar Löwen über weite Strecken, musste dann aber doch den 20:20-Ausgleich einstecken. Dann glänzten Simon Hald mit tollen Blocks, Rasmus Lauge mit Toren und Benjamin Buric mit einem sensationellen Fuß-Reflex. „Jetzt sind wir sind zu 80 Prozent deutscher Meister“, jubelte der Keeper nach dem 26:23-Erfolg. Der THW Kiel lag nur vier Zähler zurück. Und nur drei Tage später musste ein Rückschlag verdaut werden: Im ersten Viertelfinale der Champions League unterlag die SG dem ungarischen Top-Team Veszprém vor heimischer Kulisse mit 22:28. Dennoch begleiteten stehende Ovationen die letzten Aktionen der Hausherren. Niemand hatte vergessen, dass ihre Lieblinge erst drei Tage zuvor in Mannheim einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur deutschen Meisterschaft getätigt hatten. Gegen Veszprém allerdings glückte in den ersten 14 Minuten nur ein einziges Törchen. „Viva Colonia“ erklang nach dem Rückspiel für Veszprém.

Abschied von Tobias Karlsson und Rasmus Lauge
Ab sofort beschäftigte sich der Tabellenführer nur noch mit der Bundesliga. Am 12. Mai 2019 musste er in der „Höhle des Löwen“ antreten. Mit einem Sieg beim einzigen Verfolger THW Kiel wäre die Meisterschaft praktisch besiegelt gewesen. Allerdings musste die SG schon in der ersten Hälfte auf den Ausfall von Tobias Karlsson reagieren, der mit einer Rückenblessur zur Untersuchung im Krankenhaus weilte. Ohne den Kapitän kämpfte die Defensive wacker, im Angriff fehlte aber die Durchschlagskraft. So ließ sich das 18:20 nicht verhindern. Damit rangierten die „Zebras“ nur noch zwei Punkte hinter der SG, die sich keinen weiteren Ausrutscher mehr erlauben durfte. Es waren nur noch vier Spiele zum großen Glück. Gegen Melsungen agierte Tobias Karlsson als Mentor und Motivator auf der Bank, konnte selbst noch nicht mitwirken. Ohne ihn funktionierte eine 5:1-Deckungsvarainte gut. Auch in Stuttgart, bei der vorletzten Auswärtspartie, brannte nichts an. Ebenso gegen die Füchse Berlin. Dennoch hatte das letzte Heimspiel der Saison einen ganz besonderen Charakter. Tobias Karlsson bestritt sein 500. SG-Spiel. Nach der Partie konnte der Schwede genauso wie Rasmus Lauge offiziell von der Vereinsführung verabschiedet werden. Elf lange Tage waren es noch bis zum Showdown.

Der Sonderzug nach Düsseldorf
Am 11. Juni 2019 herrschte schon am frühen Morgen reger Betrieb im Flensburger Bahnhof. Hunderte SG-Schlachtenbummler fluteten den Bahnsteig. Passend zum „Herzschlag-Finale“ in Düsseldorf gegen den Bergischen HC hatten Fan-Clubs und SG beschlossen, erstmals seit 2008 wieder mit einem Sonderzug auf Fahrt zu gehen. Im Düsseldorfer ISS Dome besetzten die 1500 Fans eine komplette Kurve. Rasmus Lauge, der von der HBL das Prädikat „Spieler der Saison“ verliehen bekam, markierte das 8:14. Es lief alles nach Plan. Doch plötzlich musste noch einmal gezittert werden, als der Bergische HC auf 23:24 verkürzte. Rasmus Lauge holte einen Siebenmeter heraus, Magnus Jøndal verwandelte nervenstark. Durchatmen! Die SG brachte die Angelegenheit über die Bühne. Dann herrschte nur noch Jubel. Die SG war zum dritten Mal deutscher Meister.