Ein Eidgenosse sagt „Moin“

- Marvin Lier im Portrait

Ein Eidgenosse spielte bis Oktober noch nie für die SG Flensburg-Handewitt. Dann verletzte sich Hampus Wanne, und der deutsche Meister musste reagieren. Er lieh Marvin Lier von Pfadi Winterthur für ein Vierteljahr aus. Ein Linksaußen, der sich in der Schweiz gerade an die erste Stelle bugsiert hatte, und sich damit auch für einen europäischen Top-Klub anbot.

Wenn die SG etwas zu vermelden hat, dann nimmt von den neuesten Nachrichten nicht nur in der Region Notiz. Der deutsche Meister strahlt auch über die Grenzen der Republik hinaus. So war es auch, als der Klub Ende September die längerfristige Verletzung von Hampus Wanne bekanntgeben musste und einen neuen Linksaußen suchte. Da klingelte ein Handy in der Schweiz. Spielerberater Tim Grothaus rief einen seiner Klienten an: Marvin Lier, der beste Torschütze von Pfadi Winterthur. „Soll ich dich platzieren, auch wenn es nur für drei Monaten auf Leihbasis ist?“ Der Handballer war überrascht, stimmte aber zu: „Das wäre ein Traum, probieren können wir es.“ Der Rest ist bekannt: Marvin Lier landete bei der SG.

Turnen oder Handball?
Ein Erlebnis, das ihm verwehrt geblieben wäre, wenn er sich als kleiner Bube anders entschieden hätte. In Ehrendingen, einem Dorf im Kanton Aargau, unweit der Grenze zu Deutschland und dem Schwarzwald, hatten Kinder die Wahl zwischen zwei Sportarten: Turnen oder Handball. „Ich wollte einen Mannschaftssport betreiben“, erinnert sich der 27-Jährige. „Und das Ballgefühl war schon relativ ausgeprägt.“ Bald wurde er in die Regionalauswahl berufen, kam später ins Blickfeld der Jugendnationalmannschaft. Zunächst als Kreisläufer, dann sprach seine Statur für den Flügel. Da spielte Marvin Lier bereits für den nur zehn Minuten vom Heimatort entfernten TV Endingen, einer Fahrstuhl-Mannschaft zwischen Swiss League und Zweitklassigkeit. „Es gab eine personelle Notlage“, erzählt er. „Da durfte ich einen Tag vor meinem 16. Geburtstag bereits mein erstes Erstliga-Match gegen die Kadetten Schaffhausen bestreiten.“

Der Weg ins Nationalteam
2012 wechselte er zu Pfadi Winterthur, bestritt einige Monate später sein erstes von 58 Länderspielen. So richtig in Fahrt kam die Karriere aber erst nach den Rücktritten zweier routinierter Linksaußen vor gut einem Jahr. Marvin Lier avancierte in der letzten Serie zum Topscorer der Alpenrepublik und stieg auch in der Nationalmannschaft zur ersten Wahl auf. Erstmals seit 2006 nimmt die Schweiz im kommenden Jahr an einer Europameisterschaft teil. Vor 14 Jahren fungierten die Eidgenossen als Gastgeber. Marvin Lier saß damals als Talent auf der Tribüne, registrierte das Vorrunden-Aus seiner Landsleute und begeisterte sich an den Fähigkeiten der Kroaten. Nun wird es in Göteborg unter anderem gegen Schweden gehen. „Wir haben eine junge, hungrige Truppe“, erzählt der 27-Jährige. „Das Medien-Interesse stieg nach einer längeren Abstiegsspirale zuletzt deutlich.“

Das Studium ruht weitgehend
Sein gewohntes Wohnumfeld in Zürich – nur 25 Minuten von Winterthur entfernt – hat er verlassen. Seine Verlobte Jasmin, die er im nächsten Jahr heiraten möchte, sieht er in diesen Monaten kaum. Auch das Saxofon ist in Zürich geblieben. Der Sportler gehört einer Schulband an, bis der Handball die Dominanz im Terminkalender eroberte. Das Studium der Erziehungswissenschaften ruht dieses Semester. Lediglich an einer kleinen Arbeit schreibt Marvin Lier in Flensburg weiter. Das Thema: „Kommunikation und Interaktion von Kindergartenkindern“. Er kann sich gut vorstellen, später in einer Sportschule oder einer Nachwuchsakademie zu arbeiten – gerne mit Handball als Schwerpunkt. Aber das ist noch weit weg.

Der maritime Charakter Flensburgs
Jetzt, in Flensburg, verkneift er sich weitgehend das Schweizerdeutsch, das nur minimal durchrutscht. Dann fragt er schon mal, ob er irgendwo „parkieren“ kann. Dann dauert es beim Gesprächspartner unter Umständen etwas, bis dieser versteht, dass der Eidgenosse gefragt hat, ob er das Auto parken kann. Sehr schnell hat der Neuzugang indes verstanden, dass man „Moin“ zu jeder Tageszeit verwenden kann. Gerne ist Marvin Lier mit Teamkollegen unterwegs, hat das Restaurant „Macedonia“ bestens kennengelernt. Am Hafen hat er schon in ein Fischbrötchen gebissen. Aus der Schweiz kennt er den 88 Quadratkilometer großen Zürichsee, aber wenn der 27-Jährige Segler und Dampfer betrachtet, spürt er den maritimen Charakter einer Hafenstadt. Er scheint sich wohl zu fühlen: „Winterthur ist klein und persönlich, Endingen sehr familiär“, vergleicht er. „Das Großstadt-Flair findet man auch in Flensburg nicht.“