Ein bitterer Mai

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 17

Die SG Flensburg-Handewitt hatte sich im Sommer 2007 mit Geschäftsführer Fynn Holpert und dem als Team-Manager zurückgeholten Anders Dahl-Nielsen neu aufgestellt. Sie kratzte mit ihrem Etat erstmals an der Fünf-Millionen-Euro-Grenze und hatte aus ökonomischer Sicht nur den THW Kiel und den HSV Hamburg vor der Nase. Die Nordlichter hegten erneut Titelhoffnungen, obwohl Unklarheiten über die Schlagkraft des neuen Teams bestanden.

So routinierte Kräfte wie Jan Holpert und Joachim Boldsen waren ausgeschieden. Bei Sören Stryger machte das linke Knie nicht mehr mit. Die SG brauchte daher einen neuen Kapitän. „Ljubomir Vranjes hat das Talent, ein Chef zu sein“, dachte sich Trainer Kent-Harry Andersson und schlug den Spielmacher vor. Das Team nickte ab. Der kleine Schwede sorgte mit einer eigenwilligen Vorstellung der vier Neuzugänge gleich für Lacher: „Einar Holmgeirsson schaut sehr viele Filme, Thomas Mogensen ist als großer Tänzer unser John Travolta, Alexander Petersson der schönste Mann aus Island, und Dane Sijan sieht aus, als ob er Pavarotti verspeist hätte.“Der serbische Keeper Dane Sijan, der von Jan Holpert die Trikotnummer zwölf erbte, und der isländische Linkshänder Einar Holmgeirsson, der nach einem Bandscheiben-Vorfall nur behutsam ins Training einstieg, empfahlen sich nicht für ein längerfristiges Engagement. Weitere Sorgenkinder dämpften die Euphorie. Blazenko Lackovic absolvierte nach seiner Knie-OP eine Odyssee bei mehreren Spezialisten, ehe eine konservative Behandlung fruchtete. Frank von Behren brach sich ein Gelenk am rechten Daumen und wechselte im Dezember nach Minden.

Das erste Landesderby für Thomas Mogensen
Trotz aller Probleme kam die SG gut aus den Startlöchern, etablierte sich mit den beiden Rivalen Kiel und Hamburg an der Spitze. Einziger Schönheitsfehler war das Remis bei Aufsteiger Essen. „Wir wollten eigentlich mit 10:0 Punkten in das Derby gegen den THW gehen“, stöhnte Fynn Holpert. Im besagten Knüller hatte der Gast aus der Landeshauptstadt zunächst Vorteile. Nach rund zehn Minuten beorderte Kent-Harry Andersson ein neues Gesicht auf die Platte: Thomas Mogensen. Der 24-Jährige, der noch kein dänischer Nationalspieler war, wusste gar nicht, wie ihm geschah. Der „Joker“ begeisterte die Menge mit schnellen Kontern und finalen Durchbrüchen. Nach dem 37:32-Sieg kreiste der Shooting-Star seine Arme jubelnd vor der pulsierenden Nordtribüne. Einmal mehr hatte die SG das nötige Fingerspitzengefühl auf dem Transfermarkt bewiesen. Eine Woche später der nächste Paukenschlag. „Die SG ist seit heute Favorit auf die Meisterschaft“, meinte Martin Schwalb. Der HSV-Coach musste es akzeptieren, dass sein Team erstmals ein Bundesliga-Heimspiel gegen den Nordrivalen verlor.

129 Minuten kein Führungstreffer
Die Bäume wuchsen allerdings nicht in den Himmel, wie die Champions League demonstrierte. Gegen Ciudad Real vermasselte die SG den Wiederbeginn mit einem 3:13-Negativlauf und kassierte eine empfindliche Heimpleite. Erst nach dem sechsten und letzten Spiel war das Weiterkommen gesichert. Am 20. Oktober 2007 verlor die SG erstmals nach 22 Monaten wieder ein Bundesliga-Heimspiel, und zwar gegen die HSG Nordhorn. Gegen die Niedersachsen verlor die SG kurz darauf erneut – im DHB-Pokal. „Derzeit ist es schwer, ein SG-Spieler zu sein“, stöhnte Thomas Mogensen. Auch der November begann bescheiden. In Göppingen hagelte es eine 29:31-Niederlage. „Ich habe morgen nur zwei Sachen vor“, bewies Johnny Jensen Galgenhumor. „Gartenarbeit und Weinen.“ Die Chronisten stellten ungläubig fest: Die SG hatte seit exakt 129 Minuten nicht mehr geführt. Die Fan-Seele schmerzte. „Kopflos, Kampflos, Harmlos – Flensburg im Herbst“, hieß es auf einem Transparent.

Herbstmeisterschaft und neuer Hauptsponsor
Der Trend zeigte wieder nach oben. Beim 47:40 in Melsungen erlebte das deutsche Oberhaus die zweittorreichste Partie ihrer Geschichte. In sehr überzeugender Manier wurden die Rhein-Neckar Löwen auf den Heimweg geschickt. „Das war teilweise so schön“, freute sich Anders Dahl-Nielsen, „dass man die Engel singen hörte“. Die Pleiten des Herbstes waren spätestens dann vergessen, als die SG im Zuge einer Gala den neuen Hauptsponsor „Sparinvest“ präsentierte. Am gleichen Abend patzte der HSV Hamburg und beförderte damit das SG Logo an die Spitze der Bundesliga. Am 22. Dezember 2007 nutzten die Nordlichter diese Konstellation und fuhren mit einem klaren 33:24-Erfolg in Minden zum vierten Mal seit 1999 die inoffizielle Herbstmeisterschaft ein.

Kein Glück in der Champions League
In der zweiten Gruppenphase der Champions League benötigte die SG den ersten Platz, um ins Halbfinale vorzustoßen. Angesichts dieser restriktiven Vorgaben hatte schon die Begegnung am 10. Februar 2008 gegen den HSV Hamburg richtungsweisenden Charakter. Und ausgerechnet jetzt zwickte es am Kreis und im Mittelblock. Johnny Jensen saß mit Kniebeschwerden auf der Tribüne, Michael Knudsen packte sich nach drei Minuten an die Hüfte. Auf der Bank saß noch Jacob Heinl. Der 21-Jährige feierte seine Feuertaufe in einem großen Spiel. Als Lars Christiansen nach 50 Minuten eine sensationelle Konter-Stafette zum 30:24 vollendete, gab es kein Halten mehr. Dann häuften sich technische Fehler, die Hamburger retteten ein Remis. Auf dem internationalen Parkett kam es noch schlimmer. Am 2. März 2008 erlosch das Fünkchen Hoffnung endgültig. Das 30:30 vor heimischer Kulisse gegen San Antonio war zu wenig. „Die Meisterschaft ist unser Ass im Ärmel“, stellte Fynn Holpert klar.

Fernduell mit Kiel
Der Februar hatte nochmals bestätigt, dass die SG in der Bundesliga ganz vorne mitspielen könnte. Zwar musste die SG den THW Kiel nach dem Landesderby wieder an die Spitze lassen, das knappe 28:30 unterstrich aber die Konkurrenzfähigkeit der SG. Eine Woche später wurde der HSV Hamburg mit 39:28 überrannt. Trotz einiger Nebenschauplätze, darunter der geräuschvolle Wechsel von Blazenko Lackovic zum HSV Hamburg, hatte sich der Glaube an die Meisterschaft im hohen Norden eingenistet. Der souveräne 36:27-Auswärtssieg in Nordhorn war ein echtes Ausrufezeichen. Der THW hatte sechs Minuspunkte auf dem Konto, die SG lag nur einen Zähler dahinter. Ein überraschender Punktverlust gegen Göppingen war kein Schlag ins Kontor. Wenige Tage später zitterten viele SG Fans vor dem Fernseher mit den Füchsen, die den THW herausforderten. Virtuell lag die SG lange Zeit an der Spitze, doch mit dem letzten Treffer zum 26:27 rettete Viktor Szilagyi den Kielern die Tabellenspitze. „Wir haben dennoch neue Hoffnung geschöpft“, erklärte Fynn Holpert. „Der THW ist nicht so konstant, wie alle denken.“

Zu viele Störfeuer
Es war allerdings nicht der Titelverteidiger, der strauchelte, sondern das eigene Team. Am 3. Mai 2008 gingen die Meisterschaftsträume der SG im Jubel der Magdeburger Bördelandhalle unter. Dann bot die SG bei den Rhein-Neckar Löwen eine saft- und kraftlose Vorstellung und war mit dem 27:31 noch gut bedient. Immer mehr wurde deutlich, dass in den letzten Wochen die notwendige Ruhe gefehlt hatte. „Acht Verträge liefen aus, dann kaufte der HSV Marcin Lijewski und verpflichtete Blazenko Lackovic“, erklärte Fynn Holpert. „Da wird man natürlich für Störfeuer von außen anfällig.“ Angesichts der zahlreichen Personal-Diskussionen rückte das letzte Heimspiel gegen GWD Minden in den Hintergrund. Das 28:29, das schließlich auf der Anzeigetafel leuchtete, hatte den Abstiegskampf auf den Kopf gestellt. Der TuS N-Lübbecke und nicht Minden musste absteigen. „Dieses Spiel war grausam, es hat viele verärgert, es geht um unseren Ruf und unsere Ehre“, erklärte Anders Dahl-Nielsen. Wenn nur der Mai nicht gewesen wäre…

Folge 18 am Mittwoch: Der „schwarze Dezember“