Der letzte Siebenmeter

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 24

Die SG Flensburg-Handewitt war nach dem überraschenden Gewinn der Champions League hungrig auf mehr, hatte im Sommer 2014 zunächst einige Unklarheiten um Ljubomir Vranjes zu beseitigen. Ihm lag ein Angebot von Paris Saint-Germain vor. Er und der SG Beirat führten ein intensives Gespräch – und einigten sich. Ljubomir Vranjes dämpfte die Erwartungen. „Jetzt“, sagte er, „sind einige wichtige Spieler nicht mehr dabei. Damit stehen wir wieder da, wo wir vor drei Jahren schon einmal waren.“

Der routinierte Kreisläufer Michael Knudsen stand nach neun, der verlässliche Ersatzkeeper Søren Rasmussen nach vier Jahren nicht mehr zur Verfügung. Und Steffen Weinhold wechselte zum THW Kiel. Die hinterlassenen Lücken mussten mit eher unerfahrenen Akteuren gestopft werden. Der neue Linkshänder Johan Jakobsson brachte aus Aalborg zumindest internationale Erfahrung mit. Die Bundesliga war für den Schweden aber ebenso Neuland wie für drei junge Dänen: Während sich Torwart Kevin Møller und Kreisläufer Anders Zachariassen als passende Bausteine erweisen sollten, verabschiedete sich Rückraumakteur Kasper Kisum nach wenigen Wochen. Wie ein Neuzugang fühlte sich Lars Kaufmann. Der Halblinke war nach drei Knie-Operationen über eine ganze Saison zum Zuschauen verurteilt gewesen. Der neue Pechvogel hieß Jim Gottfridsson. Ein Ermüdungsbruch am Fuß machte ihm so schwer zu schaffen, dass er monatelang fehlte. Und das in einer Saison, die das Rekord-Pensum von 58 Pflichtspielen aufwarf. Die unerwartete Aufstockung der Bundesliga auf 19 Vereine – als Folge der verspäteten Lizenz-Erteilung für den HSV Hamburg – war ein Grund für die Terminflut. Ein anderer lag in der erstmaligen Teilnahme am IHF Super Globe. In Katar erreichte die SG den dritten Platz.

Fehlzündungen vor einem „goldenen“ Oktober
Danach waren zwölf Tage Zeit, sich von der Reise und dem strapaziösen Wüstenklima zu erholen. Es gelang nicht, den Schalter sofort wieder umzulegen. In Magdeburg lag die SG schnell mit 3:11 zurück. Erst nach gut 20 Minuten war ein Aufbäumen zu spüren. Es kam zu spät. Auch in Kolding, beim Auftakt der Champions League, rieben sich die 300 mitgereisten Fans die Augen. 21:35 – der Titelverteidiger kassierte eine herbe 14-Tore-Klatsche. Kapitän Tobias Karlsson trottete enttäuscht in die Kabine. „Wir als Team haben viel Arbeit vor uns“, sagte er. Offensichtlich erbrachten Selbstkritik und Bestandsaufnahme die richtigen Ergebnisse. Es folgte ein „goldener Oktober“ mit einer makellosen Bilanz von acht Siegen in acht Spielen. So fühlte sich die SG auch für das Spitzenspiel gegen Bundesliga-Tabellenführer Rhein-Neckar Löwen, das den grauen November eröffnete, gerüstet.
Zunächst jubelte die „Hölle Nord“: Die Hausherren dominierten mit einem robusten Deckungsspiel. Allerdings schied Tobias Karlsson bereits nach knapp 26 Minuten mit seiner dritten Hinausstellung aus. Die SG blieb trotzdem vorn. Erst als die Badener auf eine offensive Abwehr umstellten, störten sie die Wirkungskreise von Thomas Mogensen entscheidend. Die 26:29-Niederlage nahm ihren Lauf.

Der erste Interkontinental-Transfer der SG
Dagegen untermauerte das 80. Landesderby den Trend einer aufstrebenden SG. Die Spieler tanzten nach dem 26:22-Sieg. „Die Nummer eins im Land sind wir“, sangen die Fans. Ihre Lieblinge lagen nach der furiosen Leistung nur einen Zähler hinter Kiel und den Rhein-Neckar Löwen. Dann sank die Stimmung. Allmählich sprach sich herum: Holger Glandorf hatte sich die Achillessehne des rechten Beines gerissen. Da Johan Jakobsson, der zweite Linkshänder, an einer Blessur im Bereich der Adduktoren laborierte, leiteten die Verantwortlichen für den rechten Rückraum einen Blitztransfer ein: Der Schwede Albin Tingsvall trainierte nur zwei Mal mit der SG und absolvierte die beiden Weihnachtsspiele. Mit ihm rettete der Tabellendritte einen Punkt in Melsungen. Für die Rückrunde bedurfte es einer längerfristigen Lösung. Ljubomir Vranjes weilte als TV-Experte bei der Weltmeisterschaft in Katar, observierte den Spielermarkt und hatte bald einen Favoriten: Ahmed Elahmar. Die SG vollzog den ersten Interkontinental-Transfer ihrer Vereinsgeschichte und nahm den Ägypter unter Vertrag. Da Jacob Heinl aufgrund von Rückenbeschwerden, ausgelöst durch eine Virus-Erkrankung, auf unbestimmte Zeit pausieren musste, wurde die SG nochmals tätig und holte den 25-jährigen Jakob Macke vom Zweitligisten Hamm für die Abwehr.

Mit dem letzten Aufgebot ins Final Four
Die Sorgen wurden nicht weniger. Bei der ersten Bewährungsprobe des neuen Jahres gegen Magdeburg musste zunächst Lasse Svan wegen einer Zerrung passen, dann erwischte es auch Thomas Mogensen. Die frisch erlittene Blessur im Hüftbereich ließ keinen Einsatz mehr zu. Ohne ihren Angriffsmotor wirkte die SG kopflos. Die erste Heimniederlage der Bundesliga-Saison war perfekt. Und fast stündlich erreichten den SG-Clan neue Hiobsbotschaften. Unter diesen Vorzeichen war das Prädikat „Spitzenspiel“ vor 12.000 Menschen in der Mannheimer SAP-Arena ein „Etikettenschwindel“. Arg ersatzgeschwächt hatten die Nordlichter keine Chance gegen die Rhein-Neckar Löwen. Vier Tage später meldeten sich zumindest Thomas Mogensen und Lasse Svan zurück. Mit den beiden Rückkehrern gewann die SG in Gummersbach und qualifizierte sich für das Final Four in Hamburg. Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits klar, dass mit einer engen Personaldecke nicht mehr als Platz drei in der Bundesliga möglich war.

Neue Abwehr in der Champions League
Das „Wunder von Köln“ weckte noch schöne Erinnerungen, verblasste aber im Alltag. In der Gruppe B der Champions League lagen Barcelona und Kolding frühzeitig außer Reichweite. „Wir müssen realistisch sein, für uns geht es nur um Platz drei“, mahnte Anders Eggert an. „Und wir müssen noch nach Plock.“ Zu Wisla Plock reiste der Bundesligist allerdings mit dem buchstäblich letzten Aufgebot. Ljubomir Vranjes dachte sogar über einen eigenen Einsatz nach, reichte die Verantwortung dann aber an seinen Assistenten Maik Machulla weiter. Mehr als ein 29:31-Achtungserfolg war unter diesen Umständen nicht drin, und die SG rutschte auf Platz vier. Und dann spielte Fortuna nicht mit: Im Achtelfinale mussten die Nordlichter ausgerechnet gegen den bärenstarken Landesrivalen THW Kiel ran. Die Heimpartie hatte einen brutalen Verlauf. Nach der derben 21:30-Pleite waren vorzeitig alle Hoffnungen des Titelverteidigers zerstört. Das Rückspiel in Kiel war belanglos. Zudem grassierte eine Grippewelle. Mit Tobias Karlsson, Anders Zachariassen und Lars Kaufmann fielen gleich mehrere abwehrstarke Akteure kurzfristig aus. Die SG suchte ihr Heil in einer extrem offensiven Abwehr. Eine taktische Notlösung, die noch Folgen haben sollte.

Das „goldene Tor“ von Jim Gottfridsson
Bis zum Final Four um den DHB-Pokal, dem unumstrittenen Saison-Höhepunkt, hatte die SG eine ungewohnt lange Pause von drei Wochen. Eine Vorlage für Ljubomir Vranjes, die in Kiel getestete unorthodoxe Abwehr zu verfeinern und so für einen Überraschungseffekt zu sorgen. Im Halbfinale warteten einmal mehr die Rhein-Neckar Löwen. Nach dem 11:15 erwies sich der Angriff als effizient. Die Vollstrecker hießen Johan Jakobsson und Jim Gottfridsson. 23:23 – die SG hatte den letzten Angriff. Jim Gottfridsson traute sich, zog ab. Der Ball zappelte im Netz. Urplötzlich entlud sich die Anspannung in eine Jubelorgie.

Die guten Nerven von Hampus Wanne
Mit Schwung startete die SG das Finale gegen den SC Magdeburg. Doch schnell war es mit der Herrlichkeit vorbei. Es entwickelte sich ein Kampf auf Augenhöhe, ein packender Krimi, der in die Verlängerung ging. Der SCM lag knapp vorn, der SG blieb ein letzter Angriff. Anders Zachariassen tauchte frei am Kreis auf und rettete seinen Farben das Siebenmeterwerfen. Das begann glänzend: Kevin Møller blieb gegen Robert Weber siegreich, dann behielten stets die Schützen die Oberhand. Anders Eggert, Lasse Svan, Ahmed Elahmar und Jim Gottfridsson trafen für die SG, der SCM zog jeweils nach. Als letzter Schütze hatte es Hampus Wanne in der Hand: die Entscheidung oder der zweite Durchgang! Der junge Schwede legte die Bedeutung seiner finalen Tat beiseite, zog cool ab – und der Aufsetzer klatschte ins Netz. Tor und Sieg! Hampus Wanne drehte sich um, streckte die Arme aus und empfing wenige Momente später die flugs heraneilenden Mannschaftskollegen, die den Siebenmeter-Helden auf Schultern trugen. Nach zehn Jahren hatte die SG wieder den DHB-Pokal errungen.

Folge 25 am Freitag: Eine bittere Woche