Der doppelte „Vize“

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 5

Der Start in die Saison 1995/96 verlief so gut wie nie. 6:0 Punkte – die SG Flensburg-Handewitt eroberte den „Platz an der Sonne“ und durfte zum ersten Mal überhaupt als Spitzenreiter in die Kieler Ostseehalle einmarschieren. Allerdings fehlte Jan Holpert, der wegen einer Grippe das Bett hütete. Andreas Bulei vertrat den Stammtorhüter ausgezeichnet.

Trotzdem erspielten sich die „Zebras“ eine 12:8-Führung. Die SG schlug zurück. Die Schlussphase begann: Jan Eiberg Jörgensen markierte das 22:23. Gleich darauf parierte Andreas Bulei einen Wurf. Doch im Gegenzug vertändelten Holger Schneider und Ulf Momsen den Ball. Der THW bekam mit dem Schlusssignal einen Siebenmeter. 23:23! Nichts war es mit einem Sieg der Gäste. Aber immerhin glückte der erste Punktgewinn in der Ostseehalle überhaupt. Einen starken Tag hatte auch der einzige Neuzugang erwischt: Jan Fegter. Die SG vertraute ihrem Personal, wollte aber die halblinke Rückraumposition mit einem Nationalspieler beleben. Zum Leidwesen von Rainer Cordes, der seine Rolle als Platzhirsch an die jüngere Konkurrenz abgeben musste.

Zwei nebenberufliche Geschäftsführer
Die SG hatte sich mittlerweile zu einer festen Größe im deutschen Vereinshandball gemausert. Der Etat hatte die Zwei-Millionen-Mark-Mauer durchbrochen. Die Akteure waren nur noch halbtags berufstätig. „Schritt für Schritt mitgehen, wenn der Zug nicht irgendwann ohne uns abfahren soll“, meinte Dierk Schmäschke. Er und Manfred Werner wurden zu nebenberuflichen Geschäftsführern bestellt. Diese Neuerung ergab sich aus der zum 1. Juli 1995 vorgenommenen wirtschaftlichen Ausgliederung der Bundesliga-Mannschaft, um die Stammvereine TSB und HSV aus der Haftung für den Erstliga-Spielbetrieb zu entlassen. Für die „Erste“ trug nun eine GmbH & Co. KG die Verantwortung. Das gesetzlich vorgeschriebene Stammkapital von 50.000 D-Mark brachten die drei Gesellschafter Helmut Ermer (SG-Schatzmeister), Frerich Eilts (TSB-Vorsitzender) und Hinrich Sellmer (HSV-Vorsitzender) ein. Auch auf dem Spielfeld zeichnete sich die neue Zeit ab. In der Fördehalle wurde nun vor jedem Heimspiel ein Boden verlegt, bei dem nur die Handball-Linien aufgemalt waren.

Eine schwarze Woche
Der Spitzenplatz ging allerdings bald flöten. Die beinahe schon obligatorische Niederlage setzte es in Lemgo. Gegen Aufsteiger GWD Minden enttäuschte die SG auf der ganzen Linie. Viele Zuschauer verließen vorzeitig die Fördehalle. Die Bundesliga war ausgeglichen wie nie. In der zweiten Saisonhälfte wechselte die SG wieder auf die Überholspur. Nach einem Sieg im Landesderby stieß die SG an die zweite Stelle vor – punktgleich mit Spitzenreiter Kiel. Das Frühjahr brachte eine weite Europapokal-Reise und das „Aus“ in Granollers. Die Stimmung im SG Clan verschlechterte sich weiter, als eine Blessur bei Jan Fegter diagnostiziert wurde: Ein Meniskusriss bedeutete das Saisonende. SG Coach Anders Dahl-Nielsen sah die Felle für das schwere Spiel bei der SG Wallau-Massenheim davonschwimmen: „Jetzt müssen wir wieder ganz von vorne anfangen.“ Seine düsteren Vorahnungen sollten sich bewahrheiten: Der 30. März 1996 ging als schwarzer Tag in die Vereinsgeschichte ein. Gerade zwölf Minuten waren vorbei, da führten die Hessen bereits mit 8:2. Die SG wirkte schwerfällig und trat letztendlich mit einer 22:36-Pleite die Heimreise an. Unter dem Strich stand der erste „Vize“.

Skandinavien-Power
Im Sommer 1996 hatten sich die Wechsel-Modalitäten grundsätzlich geändert. Nach dem Bosmann-Urteil genossen Sportprofis europaweit eine neue Freizügigkeit. Viele Vereine blickten über die Grenzen – auch die SG. Neben dem routinierten Norweger Roger Kjendalen heuerte auf Wunsch von Anders Dahl-Nielsen eine junge dänische Flügelzange bei der SG an. Die rechte Seite besetzte Christian Hjermind (HIK Kopenhagen), die linke Lars Christiansen (Kolding IF). Die Hoffnungen, mit den Verstärkungen auf den Bundesliga-Thron zu springen, verflüchtigten sich rasch. Der TBV Lemgo spazierte mit einer sensationellen Souveränität durch die Hallen der Bundesliga. Die SG hingegen sackte zeitweise auf den siebten Rang ab, wusste sich dann aber zu steigern. Das bekam der Tabellenzweite Niederwürzbach drei Tage vor Weihnachten 1996 eindrucksvoll zu spüren. Mit 24:12 fertigten die Gastgeber die Saarländer ab. SG Keeper Jan Holpert musste im gesamten zweiten Durchgang nur dreimal den Ball aus dem Netz fischen.

Zum zweiten Mal Zweiter
Einige Wochen später hätte das SG Management das Landesderby gegen Kiel „am liebsten verlegt“. Roger Kjendalen laborierte an einem Muskelfaserriss. Doch der Ersatz-Spielmacher Peter Leidreiter stach. Die „gnadenlose Demontage des Meisters“ (O-Ton „Flensburger Tageblatt“) erlebte beim 26:13 ihren Höhepunkt. THW-Coach „Noka“ Serdarusic staunte: „Wir haben in den vergangenen Jahren fast überall in Europa gespielt, aber so hoch wie heute haben wir bislang noch nirgendwo zurückgelegen.“ Die Kieler schafften nur noch eine Ergebnis-Kosmetik zum 28:21, während die SG als Tabellenzweiter unaufhaltsam auf den zweiten „Vize“ zusteuerte. Die Konzentration galt fortan hauptsächlich dem Europapokal…

Folge 6 am Mittwoch: Die SG schreibt Geschichte