Die „Hexer“ von Leon

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 10

„Wir sammeln Punkte“, lautete der neue Slogan, den die SG Flensburg-Handewitt  im Rahmen des Fototermins am Kraftfahrt-Bundesamt präsentierte. 60 Zähler – so viele wünschte sich Erik Veje Rasmussen von seiner Mannschaft in einer einmalig auf 20 Teams aufgestockten Bundesliga der Saison 2000/2001.

Der Kader zeigte keine großen Veränderungen. Roger Kjendalen hatte als dritter Spielmacher mit seiner Rolle gehadert und wechselte nach Zürich. Nicht eingeplant war der Abgang von  Morten Bjerre. Der dänische Nationalspieler hatte bereits in der entscheidenden Phase der Meisterschaft Gespräche mit dem THW Kiel geführt. Statt auf Vertragserfüllung zu pochen, strich die SG lieber die Rekord-Ablöse von rund 200.000 D-Mark ein – und sprach Jan Eiberg Jörgensen sowie dem jungen Maik Makowka das Vertrauen im rechten Rückraum aus. Die Nordlichter überraschten mit dem Transfer von Rückraumass Bogdan Wenta, der immerhin schon 38 Lenze zählte. Geschäftsführer Manfred Werner grinste: „Wenn ihnen ein so erfahrener Mann im Training davonrennt, spornt es die jungen Spieler an.“ Zu diesen gehörte mit seinen 21 Jahren der dänische „Rohdiamant“ Lars Krogh Jeppesen, der sich schon bald als Volltreffer entpuppen sollte.

Ein kleiner Titel
Am 9. August 2000 wurde der Supercup am Rande der Weltausstellung in Hannover ausgetragen. Vor allem die SG Defensivabteilung, die den THW Kiel unter die 20-Tore-Marke drückte, verdiente sich Bestnoten in einer dramatischen Partie. In Unterzahl riskierte „Faxe“ Jörgensen zwölf Sekunden vor Schluss ein Kreisanspiel. Dieses verwertete Andrej Klimovets zum 20:19. Der Sieg! Eine Gratulationswelle rollte auf das SG-Lager zu. Eine Diskussion über den Stellenwert des gerade gewonnenen Wettbewerbs entbrannte. Erik Veje Rasmussen äußerte sich ganz pragmatisch: „Wir haben bewiesen, dass wir den THW Kiel schlagen können.“

Fördehalle eine Festung
Zu Hause verteidigte die SG die ganze Saison ihre weiße Weste, präsentierte sich zumeist dominant. Das war gegen Wetzlar nicht anders. Dennoch herrschte Verwirrung. 36:28 hatten die Beobachternotiert. Im Spielbericht tauchte nach dem 34:23 aber ein 34:25 auf. Da das offizielle Papier bereits unterzeichnet war, meldeten die Ergebnisdienste ein 36:29. Ein „Phantom-Tor“, das im Mai 2001 tatsächlich eine Bedeutung erhalten sollte. Im Herbst 2000 allerdings machte der SG die fehlende Konstanz in der Fremde zu schaffen. Die SG lag bald drei Zähler hinter dem SC Magdeburg und der SG Wallau-Massenheim. Nach dem Landesderby feierte die Fördehalle: „Oh, wie ist das schön“. Fans, Spieler und Betreuer umarmten sich, konnten ihr Glück kaum fassen. Mittendrin Christian Berge. Er war es, der zwei Sekunden vor dem Ende den Ball in das Kieler Gehäuse zum erlösenden 30:29 befördert hatte. Begünstigt war der letzte Treffer durch eine Zeitstrafe gegen die Kieler. Christian Berge zog sich das rote Leibchen über und umkurvte in doppelter Überzahl die THW-Abwehr und spazierte wie „auf der Autobahn“ zum Sieg.

Odyssee an die Tabellenspitze
Es blieb eng im Handball-Oberhaus. Die SG blieb oben dran, meisterte dabei einige Widrigkeiten. „Faxe“ Jörgensen fiel nach einem Muskelriss in der Wade bis März aus. Die Reise nach Eisenach verlief äußerst turbulent. Wegen orkanartiger Böen war der Charterflug kurzfristig ausgefallen. Der SG Tross verpasste seine Anschlusszüge in Hamburg und Kassel. Ein bestellter Bus kam nicht. Für das letzte Stück nach Thüringen mussten Taxis aushelfen, sodass die Spieler erst 30 Minuten vor Anpfiff am Fuß der Wartburg eintrafen. Dennoch fuhr die SG nach 19 Spieltagen die inoffizielle Herbstmeisterschaft ein. So ganz nebenbei reiften die Europapokal-Hoffnungen. Im Viertelfinale erwies sich selbst das renommierte ungarische Team Veszprém nur phasenweise als schwere Prüfung. Einige Wochen später gelang im deutsch-deutschen Duell gegen Großwallstadt der fünfte internationale Finaleinzug in Folge. In der Bundesliga allerdings machte die SG schlechte Erfahrungen mit den Unterfranken. In Aschaffenburg erwischte der Spitzenreiter einen 1:7-Fehlstart, der nicht mehr wettzumachen war. Die Konkurrenz horchte auf: Auch in Dutenhofen glückte wenig, der nächste Rückschlag musste verdaut werden.

Der Triumph von Leon
Auswärts erlebten die Schlachtenbummler weiterhin zahllose „Achterbahn-Fahrten“. Kummer bereitete Søren Haagen, der über mysteriöse Schmerzen an den Füßen klagte. Die Bundesliga-Karriere des Dänen war beendet. In dieser Notsituation reaktivierten die SG Verantwortlichen den „Hexer“ Andreas Thiel. So spät in der Saison erhielt die Torwart-Ikone allerdings keinen Lizenzspieler-Status mehr und durfte daher nur vier Mal eingesetzt werden – in zwei Bundesliga-Partien und in den beiden Finalspielen des Europapokals. Die brachten großen Handball nach Flensburg. Die SG spielte gegen Ademar Leon groß auf: Im Angriff nutzten Lars Krogh Jeppesen und Jan Eiberg Jörgensen ihre Chancen. Würde das 32:25 reichen? Der Handball-Tempel von Leon entpuppte sich als Hexenkessel. Beim 24:18 wurde es eng, die SG schien am Druck von den Rängen zu zerbrechen. Nur noch ein Tor – und die Trophäe würde in Spanien bleiben. Die letzte Minute: Stefan Schröder sah nach einer „Notbremse“ gegen Carlos Lima die rote Karte. Siebenmeter für Leon! Alberto Entrerrios trat an. Doch der Fuß von Jan Holpert versperrte dem Ball den Weg ins Netz. Die letzten Sekunden bewältigten seine Kollegen in Unterzahl, ehe Igor Lavrov mit dem 19:24 die Gäste erlöste. Manfred Werner lachte. Er blickte auf Jan Holpert und Andreas Thiel: „Wir haben zwei Hexer!“

Das Endspiel von Magdeburg
Die Anhängerschaft hoffte auf neuen Schwung im Kampf um die Meisterschaft. Am 20. Mai 2001 hatte die Bundesliga ihr „Finale“, die SG als Spitzenreiter musste ausgerechnet in Magdeburg, beim nur einen Zähler schlechter platzierten Rivalen antreten. Hoffnungsvoll reisten rund 250 SG Fans mit ihrem Klub zur Bördelandhalle. 12.000 Handball-Interessierte erlebten die Partie auf der Flensburger Exe, wo der NDR eine große Videoleinwand aufgestellt hatte. Die Zuversicht wuchs, als die SG zwischenzeitlich mit 7:4 führte. Igor Lavrov und Bogdan Wenta zogen die Fäden. Dann geriet der Spielfluss ins Stocken. Schon zur Halbzeit führten die Hausherren mit 12:11. Gleich nach der Pause legten die Magdeburger drei Treffer nach. Die vielen Fans in Flensburg und in der Halle litten mit ihrer Mannschaft, die einen bitteren „Knock-Out“ verkraften musste. 23:30 – das Ende aller Hoffnungen! Es waren die Spieler des SC Magdeburg, die die Meisterschale schwenkten. Der TBV Lemgo hatte sich mit einem 38:24-Kantersieg gegen Hameln noch an der SG vorbeigemogelt. Lemgo war Zweiter, die SG nur Dritter! Kurios: Das „Phantom-Tor“ der HSG Wetzlar aus dem Oktober hatte den Ausschlag gegeben.

Folge 11 am Montag: Eine neue Handball-Arena