„Unglaubliche Moral und Mentalität“

- Das Interview der Woche: Maik Machulla

Die Saison 2020/21 wird sicherlich in vielerlei Hinsicht in die Historie der LIQUI MOLY HBL eingehen. Das verdeutlicht auch ein Interview, das die Redaktion mit Maik Machulla führte. Der Trainer der SG Flensburg-Handewitt erzählt Denkwürdiges aus den letzten Monaten, bilanziert die sportliche Seite und blickt schon etwas voraus.

Maik, du gehörtest bereits zu den Gesichtern der Bundesliga, als die Vereine mehrheitlich noch in Schulsporthallen spielten. Kannst du dich an eine ähnlich verrückte Saison erinnern wie die abgelaufene?
Maik Machulla: Eine solche Pandemie hatten wir ja alle noch nicht erlebt, insofern war es eine neue Situation. Aber in der Saison 2000/2001 hatten wir schon mal eine Bundesliga mit 20 Teams. Diesmal waren die vier zusätzlichen Spieltage vor allem für die Mannschaften mit vielen Nationalspielern eine Extra-Belastung. Diese verbunden mit den Reisestrapazen steigerte nicht unbedingt die spielerische Qualität der LIQUI MOLY HBL. In vielen Spielen war es einfach nicht möglich, seine besten Spieler auf das Feld zu schicken. Aber die Verbände wollten alle ihre Wettbewerbe unbedingt durchbringen. Koste es, was es wolle. Und eine Weltmeisterschaft fand auch noch statt. Unter der Terminhatz und unter der geringen Flexibilität bei der Spielplangestaltung litten vor allem die Spieler. Wir haben es irgendwie geschafft, haben aber auch gesehen, wie hoch der Preis dafür ist. Ich hoffe, dass wir so eine Saison nicht wieder erleben müssen.

Viele Spiele fanden vor einer Geisterkulisse statt. Eine grenzwertige Erfahrung? 
Maik Machulla: Handball und Zuschauer gehören einfach zusammen. Der Ausschluss der Öffentlichkeit war leider die einzige Möglichkeit, den Sport am Leben zu halten. Meine Spieler hatten sich auf diese Situation sehr gut vorbereitet und gewöhnten sich sogar daran. Wir konnten besser kommunizieren, ich hörte jedes Wort in Angriff und Abwehr. Die Schiedsrichter nahmen nicht den Druck der Zuschauer wahr und pfiffen bei 50:50-Entscheidungen weniger für das Heim-Team. Man muss nur mal schauen, wie viele Punkte die sonst so heimstarken Magdeburger in dieser Saison zu Hause einbüßten. Trotzdem: Wir freuen uns, dass nun wieder viel mehr Leute nicht am Fernseher, sondern in der Halle zuschauen können.

Wird die Corona-Krise den Handball langfristig an manchen Stellen verändern?
Maik Machulla: Das glaube ich nicht. Es gibt nun seit einigen Wochen Lockerungen und Entspannung, und wir sehen, wie schnell die Menschen zu ihren Gewohnheiten zurückfinden.

Anfang September sagtest du unter dem Eindruck mehrerer verletzter wichtiger Deckungsspieler, dass die SG im Kampf um die EHF Champions League vorerst nicht konkurrenzfähig sei. Da hat dich deine Mannschaft aber eines Besseren belehrt. Sportlich war die Saison ja sehr erfolgreich. In der Bundesliga wurden ja überhaupt nur zwei Spiele verloren.
Maik Machulla: Zu dem Zeitpunkt hatten wir keine Möglichkeit uns einzuspielen, mussten viel improvisieren, und die nur drei Testspiele hatten keinen wirklichen Wert. Wir gewannen dann mit Gøran Søgard und Mads Mensah als Not-Kreisläufer gegen Kielce. Und eine Woche weiter siegten wir erstmals überhaupt in Paris. Dadurch gewannen wir so viel Selbstvertrauen und Sicherheit, dass wir alle Probleme erfolgreich meistern konnten. Simon Hald nach langer Verletzungspause und Magnus Rød funktionierten gut im Innenblock. Unsere Kreisläufer-Aushilfe Domen Sikosek Pelko machte es besser als gedacht – wenn man das Auswärtsspiel in Kiel mal außer Acht lässt. Ich stapelte damals nicht tief, da der Handball mit seinen Automatismen nun einmal sehr komplex ist. Die schnellen Erfolge waren so nicht zu erwarten. Am Ende hatten wir sogar zum dritten Mal in vier Jahren am letzten Spieltag die Chance auf die Meisterschaft.

Trotz vieler Verletzungen raffte sich die Mannschaft immer wieder auf und zeigte Spitzenleistungen. Braucht man dafür eine besondere Mentalität?
Maik Machulla: Du brauchst Spieler mit viel Lust auf Handball und die nicht anfangen zu jammern, wenn es mal schwierig wird. Wir achten darauf schon vor einer Verpflichtung, ob ein Spieler Verantwortung übernimmt oder sich duckt und ob er auch im Training alles bietet. Die Mannschaft entwickelt sich kontinuierlich, ebenso Persönlichkeiten mit großer Erfahrung. Wir wollen stets um Titel spielen und erlauben uns deshalb keine Nachlässigkeiten. Es wird mehr investiert als erwartet wird und im Vertrag steht. Ich weiß nicht, wie lange ich Trainer sein werde: Aber eine Truppe, die so mit Moral und Mentalität besticht, werde ich wohl nie wieder trainieren. Unglaublich!

In der EHF Champions League erreichte die SG erstmals seit Herbst 2006 den Gruppensieg, scheiterte dann aber knapp an Aalborg im Viertelfinale. War das der emotionale Tiefpunkt der Saison?
Maik Machulla: Ja, das war sehr hart für uns. In der Gruppenphase waren wir auf einem so guten Weg und lagen sogar trotz der vier Minuspunkte, die aus den nicht ausgetragenen Spielen in Porto und gegen Skopje resultierten, auf Rang eins. Diese gute Vorlage konnten wir leider nicht nutzen, um nach Köln zu gelangen. 15 schlechte Minuten in Aalborg erwischten uns hart. Dass die Spieler danach wieder den Fokus auf die Bundesliga legen konnten und weiter Punkte sammelten, spricht für sie. Plötzlich war sogar die große Chance da, Meister zu werden.

Die Gegenfrage: Hast du ein Lieblingsspiel, dass du gerne noch einmal erleben möchtest?
Maik Machulla: Das Heimderby gegen den THW Kiel. Wir hatten ohnehin schon drei Verletzte, als auch noch Mads Mensah und Simon Hald in Quarantäne bleiben mussten. Uns fehlten keine Jungspunde, sondern fünf Leistungsträger. Am Ende hatten wir einen Sieg, der uns emotional weiterhalf. Auch die Auswärtssiege in Paris und in Kielce hatten einen besonderen Charakter.

Ein Trainer pickt nicht gerne einzelne Spieler aus der Gesamtheit heraus. Viele Beobachter allerdings schwärmten in den letzten Monaten vor allem für Jim Gottfridsson, Johannes Golla und Hampus Wanne. Kannst du das nachvollziehen?
Maik Machulla: Ja, das kann ich. Jim Gottfridsson ist für mich ganz klar der MVP dieser Saison. Er spielte in 52 Partien fast die kompletten 60 Minuten – auch in der Abwehr. Hampus Wanne ist nach seiner Verletzung in der Serie 2019/20 wahnsinnig stark zurückgekehrt und glänzt mit Effektivität und Spielfreude. Er ist einer der besten Linksaußen der Welt. Für Johannes Golla wurden auch schon viele Superlative bemüht. Er hat sich menschlich und sportlich enorm weiterentwickelt – und er ist erst 23 Jahre alt.

Warum gab es – zumindest gefühlt – so viele Verletzungen wie noch nie? War die Saison zu lang und holprig?
Maik Machulla: Das kann ich noch nicht klar beantworten. Für eine Analyse werden wir Trainer uns noch mit dem Medical Team austauschen. Es waren allerdings allesamt keine Muskelverletzungen, sondern unglückliche Konstellationen, für die man eine fehlende Regeneration nicht verantwortlich machen kann. Ich habe eher den Eindruck, dass die Spieler zu viele andere Dinge im Kopf hatten und sich nicht immer 100-prozentig auf den Handball konzentrieren konnten. Keinen Kontakt zu den Familien, Corona-Testungen, Reiseänderungen, Gehaltsverzicht, ja sogar Zukunftsängste könnten sich da ausgewirkt haben, obwohl wir versuchten, alles von ihnen fernzuhalten. Diese Nebengedanken belasteten womöglich auch auf dem Spielfeld.

Wie geht es Benjamin Buric, Franz Semper und Lasse Møller? Wann wird man sie wieder auf dem Handballfeld sehen?
Maik Machulla: Wegen Franz Semper bespreche ich mit dem Medical Team das weitere Vorgehen für die Vorbereitung. Wir wollen ihn behutsam aufbauen. Mit Benjamin Buric rechne ich in jedem Fall, seine Verletzung müsste ausgeheilt sein. Lasse Møller hingegen braucht viel Zeit und Ruhe, es ist eine schwere Verletzung.

Dafür kommt Aaron Mensing.
Maik Machulla: Ich freue mich, dass wir eine Lösung für zwei Jahre gefunden haben und wir mit sieben Rückraumspielern in die übernächste Saison gehen können. Für Aaron Mensing geht ein Kindheitstraum in Erfüllung. Er ist ein großes Talent, warf in einer Saison 176 Tore aus dem Feld. Schön, dass es geklappt hat.

Fürchtest du dich vor den Olympischen Spielen? Viele deiner Spieler werden ja keine Sommerpause bekommen.
Maik Machulla: Da mache ich mir große Sorgen, da wir die Spieler abstellen, die ohnehin viel spielten. Sie hatten wenig Zeit zum Regenerieren und bewegten sich lange Zeit im roten Bereich. Wenn man mit einem Formel1-Auto mit 300 Stundenkilometern über die Piste saust, ist irgendwann der Tank leer. Dazu kommt die mentale Seite, dass die Olympia-Teilnehmer nur drei Wochen nach Tokio wieder in den Bundesliga-Hallen unterwegs sein müssen. 

Bis zu elf deiner Spieler könnten nach Tokio reisen. Wie planst du die Vorbereitung auf die neue Saison?
Maik Machulla: Ich werde erst einmal schauen, wer letztendlich da sein wird. Mehr als den 2. August als Starttermin habe ich noch nicht geplant. Traditionell werden wir uns zum Auftakt in der Marineschule Mürwik treffen. Ob ein Trainingslager überhaupt Sinn macht, bezweifle ich. Es läuft eher auf ein dreitägiges Kurzlager hin, wenn die Olympia-Starter wieder da sind.

Eine letzte Frage: Wie wirst du die Sommerpause verbringen?
Maik Machulla: Ich werde das Handy für vier Wochen abschalten. Ich brauche diese Entspannung unbedingt. In der abgelaufenen Saison musste sich das Trainer-Team nicht nur um Taktik und die Spiele kümmern, sondern es ging auch sehr viel um Reisen, Regeneration und andere Dinge.