Süßer Abschied vom Europacup der Pokalsieger

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 21

Dieses Landesderby war anders als die meisten anderen. Dramatik, Hektik und Rivalität, normaler Weise unverzichtbare Elemente eines  Schleswig-Holstein-Duells, fehlten am 4. September 2011 völlig. Das Ergebnis von 35:21 für die „Zebras“ stellte einen Rekordsieg in der langen Derby-Historie dar. Der rabenschwarze Tag mündete für die SG Flensburg-Handewitt in der „roten Laterne“ der Bundesliga. Erstmals seit Januar 1990. „Man sollte nicht nach jedem Sturm gleich eine Arche Noah bauen“, sagte Manager Holger Kaiser. „Wir stehen zu unserem neuen Konzept.“

Das schlug durch bis zur strukturellen Ebene. Die beiden Stammvereine TSB Flensburg und Handewitter SV hatten den SG Vertrag bis 2020 verlängert. Dieser Schritt entfachte keine Diskussionen, ging aber mit einer Neuordnung der inneren Organisation einher. Neben der GmbH & Co. KG mit ihren 73 Kommanditisten wurde eine „geschäftsführende GmbH“ eingerichtet. Deren Gesellschafter waren bislang die beiden Stammvereine mit einem Pflichtanteil von 25,1 Prozent sowie Manfred Werner und Frerich Eilts. Die beiden Funktionäre übertrugen ihre Anteile nun auf die GmbH & Co. KG. Der ehemalige Wirtschaftsbeirat wurde zum „Beirat“ aufgewertet. Vorsitzender blieb Boy Meesenburg. Für den operativen Bereich setzte die SG auf eine Doppelspitze in der Geschäftsführung. Nach acht Jahren kehrte Dierk Schmäschke zurück.

Drei Hoffnungsträger
Die SG baute auf einen Etat von rund fünf Millionen Euro, was zu wenig erschien, um die Finanzkönige aus Kiel, Hamburg und Mannheim anzugreifen. Daher schrieben sich die Nordlichter eine Verbesserung des sechsten Vorjahres-Platzes auf die Fahnen und träumten von mehr. Im Kader steckten drei neue Hoffnungsträger. Der erfahrene Torwart Mattias Andersson kam zwar aus Großwallstadt, war aber seit seinen sieben Jahren beim THW Kiel ein Titel-Hamster. Im linken Rückraum sollte Lars Kaufmann, zuletzt in Göppingen, kräftig Alarm schlagen. Er war Weltmeister 2007 – wie auch Holger Glandorf. Der Linkshänder bewies mit elf Toren gegen die MT Melsungen schnell seine Klasse. Die SG verdaute die Derby-Schlappe. Es folgten fünf Siege – und endlich war auch das Torverhältnis positiv.

Gala als Antwort auf Termin-Probleme
Schwerer war es, die Tücken der Spielplan-Gestaltung zu bewältigen. Bis Sonntagabend rief die Nationalmannschaft, 48 Stunden später schon die Bundesliga – und das auswärts. Deshalb traf sich die SG Truppe direkt in Berlin, um an Ort und Stelle ein einziges Mal zu trainieren. Holger Kaiser hatte um eine Verlegung gebeten, konnte gegen das Termindiktat des Fernsehens allerdings nichts ausrichten. Die SG musste sich mit 30:33 bei den Füchsen geschlagen geben. Da die SG mit einem vollen Kader ausgestattet war, wurde schnell Schwung geholt. Mit der 43:27-Gala gegen den VfL Gummersbach kletterten die Nordlichter erstmals auf den dritten Platz. Überragend Anders Eggert, der mit 18 Toren bei 19 Versuchen einen SG Rekord aufstellte. Mit dem 37:34-Erfolg über die Rhein-Neckar Löwen stimmte sich die SG für die abendliche Weihnachtsfeier ein. „Zum ersten Mal haben wir in dieser Saison gegen eine Top-Mannschaft gewonnen“, jubelte Trainer Ljubomir Vranjes.

Ende Februar der letzte Punktverlust
Längst war die SG aus dem Schatten der Konkurrenz getreten. Angesichts des Laufs kam die Europameisterschaft im Januar nicht unbedingt gelegen. Die Dänen freuten sich über Gold. Nur neun Tage nach dem Finale von Belgrad schlidderte die SG beim TBV Lemgo in eine Niederlage. Schlimmer noch: Mit Jacob Heinl (Wurfhand) schied nach Michael Knudsen (Wade) der zweite Kreisläufer und Abwehr-Stratege aus. Acht Tage später sah es schon wieder besser aus. Michael Knudsen warf sich ins Getümmel, beschränkte sich auf Offensiv-Aufgaben und erzielte immerhin fünf Treffer beim Sieg gegen Göppingen. In der Abwehr musste er geschont werden, was auch das torreiche 32:32-Remis in Melsungen mitverschuldete. Was am 26. Februar 2012 niemand ahnte: Für die SG war es in dieser Bundesliga-Saison der letzte Punktverlust.

Eine Extra-Einheit als Maßnahme
Ab März ging es Schlag auf Schlag. Beim 36:30 über den noch amtierenden Meister HSV Hamburg zeigte die SG einen phänomenalen Auftritt. Der Stimmungsmacher war Mattias Andersson, der 22 Würfe entschärfte. Der Keeper schmunzelte: „Heute wird gefeiert, morgen genießen wir diesen Erfolg, und ab Montag bereiten wir uns auf die nächsten Aufgaben vor.“ Die hatten immer häufiger einen internationalen Anstrich. Der Europacup der Pokalsieger nahm an Fahrt auf. Im Viertelfinale musste sie weit reisen – in die ukrainische Industrie-Metropole Zaporozhye. Der HC Motor stand dem Angriffsschwung des Bundesligisten hilflos gegenüber. Das 39:30 war die halbe Miete. Die 27:32-Heimniederlage im Rückspiel hatte zwar keine sportlichen Auswirkungen, verhinderte aber eine Werbung in eigener Sache. „Handball ist ein Kampfsport, ohne Bereitschaft geht es nicht“, ärgerte sich Ljubomir Vranjes. Er setzte eine Extra-Übungseinheit für den sonst freien Sonntag an. Die Mannschaft verstand: Vier Tage später putzte sie Magdeburg mit 32:21.

Ohne Holger Glandorf auf Platz zwei
Die folgende Länderspiel-Pause sollte zum Regenerieren verwendet werden, sie endete jedoch mit großer Aufregung. Holger Glandorf handelte sich beim DHB-Lehrgang eine Infektion an der Ferse an. Zwei Wochen musste er im Krankenhaus verbringen. Die Saison war gelaufen. Als am 14. April 2012 der Tabellenzweite Füchse Berlin in Flensburg vorstellig wurde, ließen sich die 60 Handball-Minuten kaum rational erklären. Kurz nach der Pause waren die Berliner bis auf 12:19 enteilt. Dann leitete Lasse Svan mit einem lupenreinen Hattrick eine imposante Aufholjagd ein. Aus dem Rückraum hämmerte Petar Djordjic. Am Ende hatte die SG den Kontrahenten tatsächlich mit 28:25 bezwungen und verbesserte sich damit erstmals seit über dreieinhalb Jahren auf die zweite Stelle der Bundesliga.

Zwei zweite Plätze
Kurz darauf rief die Pokalendrunde in Hamburg. Holger Glandorf saß als kommissarischer Co-Trainer auf der Bank. Eine rote Wand der vielen Schlachtenbummler trug die SG gegen Lübbecke ins Endspiel. Am 6. Mai 2012 war allerdings der THW Kiel der große Favorit. Es entwickelte sich eine Partie auf Augenhöhe. Zur Pause waren beide Kontrahenten gleichauf. Danach leistete sich die SG zwei Fünf-Minuten-Phasen ohne jegliches Erfolgserlebnis. So war die knappe 31:33-Niederlage nicht zu verhindern. Die Silbermedaillen und die einprasselnden Komplimente waren nicht die ersehnten Souvenirs. In der Bundesliga war der Vize-Rang ein stolzer Erfolg. Am 16. Mai 2012 drehte die SG nach einem 12:18 auf und siegte bei den Rhein-Neckar Löwen mit 34:27. „Es ist ja schön und gut, dass wir die Champions League erreicht haben“, meinte Mattias Andersson. „Aber jetzt wollen wir auch einen Titel.“

Der erste Titel seit 2005
Längst hatte die SG im Halbfinale den spanischen Vertreter BM Aragon ausgeschaltet und stimmte sich auf die ersten europäischen Endspiele seit fünf Jahren ein. Die Paarungen gegen den VfL Gummersbach waren ein Schlussakkord, denn der Europacup der Pokalsieger wurde nach 37 Jahren abgeschafft. Im Oberbergischen entwickelte sich ein packendes Duell mit viel Tempo. Vorne zauberten die Flügelspieler. Lasse Svan besorgte mit einem herrlichen Dreher den 34:33-Siegtreffer. Der 25. Mai 2012 sollte eine stolze Saison krönen. Im Final-Fieber unterlief der SG so manche übereifrige Aktion, aber wirklich brenzlig wurde es nie. Schon zehn Minuten vor Schluss erhoben sich alle Zuschauer von ihren Plätzen. Der Rest war ein Schaulaufen, das in ein 32:28 mündete. Um punkt 20.33 Uhr der große Augenblick: Kapitän Tobias Karlsson nahm die Trophäe entgegen. Der erste seit 2005 errungene „Pott“ wanderte von Akteur zu Akteur und zerteilte sich schnell in zwei Stücke. Ljubomir Vranjes ließen seine Spieler hochleben. In der Stunde des Glücks dachte er schon einen Schritt weiter: „Ich möchte mit dieser Mannschaft noch weiterkommen – und vielleicht noch mehr Titel gewinnen.“

Folge 22 am Freitag: Ein Derby-Weihnachtsgeschenk