Plötzlich Meister!

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 27

Am 9. März 2017 unterschrieb Maik Machulla einen Drei-Jahres-Vertrag als Chefcoach der SG Flensburg-Handewitt. Als „rechte Hand“ von Vorgänger Ljubomir Vranjes hatte er Erfahrungen gesammelt und Lizenzen erworben. Der neue Chef auf der Bank behielt vieles bei, feilte aber vor allem am Athletik-Training. Er holte Michael Döring in den Stab und gewann den Sportwissenschaftler Jochen Baumeister für eine umfangreiche Leistungsdiagnostik. Neuer Co-Trainer wurde Mark Bult. Besonders sensibel musste Maik Machulla angesichts der psychologischen Altlasten mit dem Thema „Meisterschaft“ umgehen. „Es ist nicht förderlich, schon jetzt hochtrabende Ziele zu formulieren“, sagte er. „Jetzt geht es erst einmal darum, dass wir uns als Team finden und die Belastung der Vorbereitung meistern.“

Seine Feuertaufe in der „Hölle Nord“ erlebte der neue SG Trainer am 27. August 2017. Aufstehen, frühstücken und um 12.30 Uhr Handballspielen – das war für viele eine Umstellung, die der neue TV-Vertrag ausgelöst hatte. Die SG überrannte den TuS N-Lübbecke trotz der ungewohnten Anwurfzeit mit 37:23. Dierk Schmäschke fand: „Hier weht ein neuer Wind. Dafür sorgen Maik als neuer Trainer, aber auch unsere Neuzugänge.“ Der norwegische Linkshänder Magnus Rød und der schwedische Rechtshänder Simon Jeppsson fielen sofort ins Auge. Mit 20 und 22 Jahren brachten beide viel Talent und den Körperbau eines Rückraumasses mit. Rechtsaußen Marius Steinhauser kam als zweifacher Meister von den Rhein-Neckar Löwen. Ein Sorgenkind gab es im 16er Kader. Kevin Møller musste im Bereich der Adduktoren operiert werden und fiel bis in den Dezember hinein aus. Als Vertretung wurde der 34-jährige Däne Rasmus Lind verpflichtet. Neben Anders Eggert waren auch Petar Djordjic, Johan Jakobsson und Bogdan Radivojevic ausgeschieden. Für den nächsten Sommer kündigte sich frühzeitig eine noch größere Abschiedswelle an. Unter anderem fasste Thomas Mogensen den Entschluss, nach Dänemark zu Skjern zu wechseln. „Ein Riesentraum ist es, mich mit einem Titel zu verabschieden“, betonte er.

Mäßiger Zwischenstand und ein Stressfaktor
Dieser Wunsch wurde schon in den ersten Wochen malträtiert. In Hannover kassierte die SG allein im ersten Durchgang 20 Gegentreffer, viele von einfacher Natur. Eine 29:32-Niederlage war nicht mehr zu verhindern. Der Schock saß. Es folgten zwei schwere Tage des Wundenleckens und der Fokussierung auf die nächste Aufgabe. Ausgerechnet jetzt kündigten sich die Rhein-Neckar Löwen an. Am Ende hieß es 27:22. Einziger Wermutstropfen: Jim Gottfridsson erlitt einen Bänderriss und musste drei Monate pausieren. Und der nächste Dämpfer folgte nur eine Woche später: eine Niederlage in Leipzig. Der Zwischenstand von 4:4 Punkten wirkte ernüchternd. Jetzt startete die Champions League, die die SG sofort mit einem weiteren Ärgernis überraschte. Die EHF hatte den Donnerstag als neuen Bundesliga-Spieltag noch nicht verinnerlicht und setzte munter für die Samstage internationale Begegnungen an. Die Folge: Auswärtstouren mit hohem Stressfaktor. So stiegen die Spieler nach einem souveränen Sieg bei der MT Melsungen direkt in den Bus, um nach Frankfurt weiterzufahren, wo am nächsten Tag der Flieger nach Budapest abhob. „Veszprém lacht sich doch ins Fäustchen“, wunderte sich Rasmus Lauge. Trotz einer Pause von weniger als 48 Stunden zog sich die SG beim Wiedersehen mit Ljubomir Vranjes gut aus der Affäre und verlor nur mit 27:28.

Drei Mal gegen den THW Kiel
Die EHF hatte dafür gesorgt, dass das schleswig-holsteinische Landesderby erneut ein Bestandteil der Champions League war. In Kiel gab es ein 20:20-Remis. So hatte die SG nach neun Spieltagen in der Staffel B stolze 14:4 Punkte auf dem Konto. Es bestanden keine Zweifel mehr am Erreichen des Achtelfinals. Dann kreuzte der THW Kiel auf. Die erste Viertelstunde spielten die Hausherren wie aus einen Guss – bis Tobias Karlsson für einen Schlag auf die Brust von Christian Dissinger den roten Karton sah. Die 6:0-Abwehr geriet danach in Unordnung, und die Zähler wanderten in die Landeshauptstadt. Nur elf Tage später bot sich die Gelegenheit zur Revanche. In der Bundesliga war die SG inzwischen auf die Überholspur gegangen, hatte 21:1 Punkte in Folge eingesammelt und war seit dem 29:24-Erfolg über Magdeburg sogar Spitzenreiter. „Die Nummer eins im Land sind wir!“, sangen die Fans vor dem Derby. Nach 14 Minuten machten alle lange Gesichter: 3:10 – so stand es auf der Anzeigetafel. Die 27:35-Pleite war so nicht zu verhindern. Auch bei den Rhein-Neckar Löwen hatte die SG nicht den Hauch einer Chance. Sie spielte vorerst keine Rolle mehr in der Meisterfrage und verhinderte nur mit einem Kraftakt am zweiten Weihnachtstag eine Heimniederlage gegen die TSV Hannover-Burgdorf, die in den letzten Minuten eine Vier-Tore-Führung aus der Hand gab.

Silber und Schnee
Bei nunmehr zehn „Miesen“ musste eher an Platz vier oder fünf als an einen Höhenflug gedacht werden. Die Europameisterschaft rückte in den nächsten Wochen in den Vordergrund – und die überraschende Erfolgssträhne der Schweden. Jim Gottfridsson, Hampus Wanne und Simon Jeppsson hatten Silber im Gepäck, als sie wieder ins Training der SG einstiegen. Müde, aber voller Tatendrang. Das Restprogramm erschien günstig für einen Vorstoß auf das Bundesliga-Treppchen, ja vielleicht sogar bis ganz an die Spitze. Am 1. März 2018 ging allerdings nichts mehr im hohen Norden. Gewaltige Schneemassen lähmten das Leben in Flensburg und Umgebung. „Nach umfangreichen Gesprächen und Einschätzungen“, erklärte Dierk Schmäschke, „haben wir uns zum Schutz aller Zuschauer, Mitarbeiter, Helfer und auch der Spieler dazu entschieden das heutige Heimspiel abzusagen.“ Dem Gegner aus Wetzlar blieb nichts anderes übrig, als eine Woche später nochmals anzureisen und sich dann die eingeplante Niederlage abzuholen.

Éine mehrtägige Melancholie
Ein „großartiges Handballspiel“ erlebte die „Hölle Nord“ bei der Rückkehr von Ljubomir Vranjes. Holger Glandorf traf zwei Sekunden vor Ultimo zum 31:31. Es reichte für Rang drei in der Staffel B der Champions League. Im Achtelfinale erwies sich IFK Kristianstad als keine besonders große Hürde. In der Runde der letzten Acht wartete eine wesentlich härte Nuss. Montpellier HB stellte sich mit der Empfehlung vor, dem ruhmreichen FC Barcelona eliminiert zu haben. Das erste Spiel stieg an der deutsch-dänischen Grenze und erbrachte ein 28:28-Unentschieden. Keine gute Ausgangslage! Im Rückspiel erwischte die SG einen äußerst lethargischen Auftritt. Das 17:29-Debakel von Montpellier verursachte eine mehrtägige Melancholie. Nach dem „Aus“ in der Champions League galt die Saison als „titellos“ abgehakt. Denn in der Bundesliga, in der die SG in Magdeburg die Minuspunkte elf und zwölf kassiert hatte, schien nicht mehr als Platz zwei möglich zu sein. Ein Polster von vier Zählern und das besseres Torverhältnis sprachen für die Rhein-Neckar Löwen.

Eine überraschende Wende
Eine elftägige Pause wirkte Wunder. Beim Landesderby in Kiel demonstrierte die SG eine völlig veränderte Körpersprache. Das 29:25 in Kiel werteten die Fans als versöhnlichen Achtungserfolg. Drei Tage später verloren die Rhein-Neckar Löwen in Berlin. Aber so recht glaubte noch niemand an eine Wende im Meisterrennen. Entsprechend arbeitete die SG ihr vorletztes Heimspiel gegen GWD Minden ab. Es war ein glanzloser Kraftakt, der erst entschieden war, als Jim Gottfridsson kurz vor Schluss durch die westfälische Deckung gedüst war. Wenige Stunden später büßte die Rhein-Neckar Löwen einen Zähler in Erlangen ein. Und dann der 24. Mai 2018, an dem die SG gar nicht spielte, aber plötzlich vorne lag. Die badische Pleite gegen Melsungen bedurfte einer spätabendlichen Aufbereitung. Tobias Karlsson und Thomas Mogensen trafen sich auf ein Bier. Maik Machulla suchte sofort nach der Erdung. „Grundsätzlich hat sich doch gar nichts geändert: Wir müssen nach wie vor die letzten beiden Spiele gewinnen“, stellte er klar. Doch der Trainer konnte die Bedeutung der letzten beiden Spiele nicht kleinreden. Drei Tage später folgten 400 Fans, viele davon kurzfristig entschlossen, ihren Lieblingen zum TuS N-Lübbecke. Die Anhängerschaft wurde kräftig auf die Folter gespannt, bis der 27:24-Erfolg endlich in trockenen Tüchern war.

Ein erlösender Hattrick
Eine ganze Woche war es bis zum „Finale“ gegen Göppingen. Anspannung und Ungeduld bewegten die Gemüter. Die 6300 Zuschauer wollten ihre SG am 3. Juni 2018 zum Titel tragen. Sofort setzten die stehenden Ovationen ein. Die stark ersatzgeschwächten Göppinger, die nur mit neun Spielern angereist werden, hielten allerdings tapfer dagegen. Die SG musste noch einmal alles investieren, versiebte insgesamt vier Siebenmeter. Rasmus Lauge bündelte all seine Kräfte und zauberte einen Hattrick auf die Platte. Das 22:20 ließ die Träume gedeihen. Als Kevin Møller den Ball 45 Sekunden vor Schluss in seinen Händen hielt, war klar: „Die SG ist Deutscher Meister 2018!“ Als der letzte Treffer der Göppinger fiel, waren die Feierlichkeiten bereits gestartet.

Folge 28 am Freitag: Ein meisterlicher Umbruch