Erst Finanzprobleme, dann eine Feier

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 19

5. Juni 2010, kurz vor 23 Uhr in Flensburg: Die Bundesliga-Saison 2009/2010 ist seit fünf Stunden Vergangenheit. Knapp 1000 Menschen warten im Deutschen Haus auf die Mannschaft der SG Flensburg-Handewitt. Sie kommt aus Hannover, direkt von der letzten Auswärtspartie. Dann schreiten die Spieler durch ein Spalier ihrer Fans und entern die Bühne. An der dänischen Grenze wird ein dritter Bundesliga-Platz, der die Rückkehr in die lukrative Champions League bedeutet, gefeiert wie eine Meisterschaft. Die Begeisterung resultierte aus den ungewohnt geringen Erwartungen.

Als Fünfter war die SG aus der Vorsaison gegangen, dann folgte ein unruhiger Sommer. Es musste gerechnet, geredet und verhandelt werden. Die Finanzen hatten ein bedrohliches Aussehen. Die Einnahmen aus der Champions League fehlten erstmals nach sechs Jahren. Die herrschende Wirtschaftsflaute nagte am Sponsoren-Umfeld. Die Nordlichter mussten erkennen, dass sie den Gürtel enger zu schnallen hatten. Der nördlichste Bundesliga-Klub, sonst ein Paradebeispiel für solide Finanzpolitik, stand am Abgrund. Anfang Juni 2009 lagen die Karten auf dem Tisch. Die Spieler waren zum Teil geschockt über die finanzielle Situation, erbaten sich Bedenkzeit und schalteten auch eine dänische Spieler-Gewerkschaftlerin ein, um die SG Unterlagen zu prüfen. Die Dänin nahm zusammen mit Lars Christiansen und Michael Knudsen am Verhandlungstisch Platz. Auf der anderen Seite saßen die Gesellschafter Frerich Eilts und Manfred Werner sowie Holger Kaiser als neuer Geschäftsführer. Der Münsterländer hatte sich beim SC Magdeburg den Ruf eines „Sanierers“ erworben.

Abstriche trotz Einigung
Das Aussetzen von vertraglich vereinbarten Gehaltssteigerungen sowie eine Kappung der Netto-Grundgehälter und der Prämien um jeweils 15 Prozent – das hatte die SG vorgeschlagen, um den finanziellen Engpass in den Griff zu kriegen. „Die klare Ansage war, dass der Verein Konkurs geht, wenn wir nicht mit unserem Lohn runtergehen würden“, erklärte Michael Knudsen. „Um die SG zu retten, haben wir zugestimmt.“ Am Transfermarkt musste die SG Abstriche machen. Selbst die Rückkehr von Anders Eggert, der eine Saison beim dänischen Erstligisten Skjern Spielpraxis gesammelt hatte, wäre beinahe gescheitert. Überdies hielten sich monatelang Wechselgerüchte um einige Leistungsträger. Das war die strukturelle Basis, mit der sich Per Carlén in seiner zweiten Saison anfreunden musste. An seiner Seite blieb Ljubomir Vranjes. Die Verantwortlichen um Frerich Eilts und Helmut Ermer beförderten den kleinen Schweden zum neuen Team-Manager.

Eine gute Spürnase
Angesichts der klammen Finanzen geriet das Scouting in den Fokus. Die Spürnase war gut: Torwart-Talent Johan Sjöstrand und Spielmacher Patrik Fahlgren deuteten schnell ihr Potenzial an. Dann kam der SG entgegen, dass die HSG Nordhorn Insolvenz angemeldet hatte und absteigen musste. Plötzlich war Defensivstratege Tobias Karlsson auf dem Markt. „Das ist eine richtig gute Verpflichtung“, schnalzte Ljubomir Vranjes mit der Zunge. „Wir bauen unsere neue Mannschaft von hinten auf.“ Lars Christiansen kündigte frühzeitig seinen Abgang zum Saisonende an. Seit der Serie 1997/98 war der trickreiche Linksaußen stets der torgefährlichste SG-Akteur gewesen. Nun war das ein anderer: Oscar Carlén. Der junge Schwede bestach nicht nur wegen seinem „Killer-Instinkt“ aus acht, neun oder gar zehn Metern, sondern zählte auch in der Defensive zu den Säulen der Mannschaft. Gegen die Top-Favoriten aus Kiel und Hamburg konnte aber auch er nicht genug bewerkstelligen. Schmerzhafter waren Niederlagen in Großwallstadt und in Lübbecke. Die SG drohte, im Mittelfeld zu versinken, als sich nach elf Spieltagen bereits acht Minuspunkte angesammelt hatten.

Ein neues Abwehr-Bollwerk
Ein Auswärtssieg bei den Rhein-Neckar Löwen setzte zusätzliche Kräfte frei und löste eine Erfolgsserie aus. Die SG kletterte zu Weihnachten erstmals auf Rang drei. Die kritischen Rahmenbedingungen hatten das Team zusammengeschweißt. „Ich bin schon seit Langem Trainer, aber eine in sich so geschlossene Truppe hatte ich noch nie“, staunte Per Carlén. Ein wichtiger Faustpfand: die Abwehr. Und das obwohl Johnny Jensen bereits im Sommer und Michael Knudsen nach der Europameisterschaft im Januar wegen Knie-Problemen passen mussten. Aus der Not heraus entwickelte sich um Jung-Nationalspieler Jacob Heinl und den schwedischen Neuzugang Tobias Karlsson ein sehr effektives Bollwerk.

Personalien stören den Kurs nicht
Zum Jahreswechsel war es unruhig. Für Alexander Petersson, der bei der Europameisterschaft mit Island Bronze gewann, legten die Füchse Berlin ein attraktives Angebot auf den Tisch und verpflichteten den Linkshänder ab Sommer. Kapitän Torge Johannsen schloss sich der TSV Hannover-Burgdorf an. Im Gegenzug verpflichtete die SG einen 19-jährigen Rohdiamanten: Petar Djordjic. Lars Christiansen, der gerne als Letzter in die verdunkelte Campushalle lief, führte in seinen letzten Monaten bei der SG das Team als Kapitän auf das Parkett. Bei seiner Premiere glückte ein 27:24-Sieg über Magdeburg, während Mitbewerber wie die Rhein-Neckar Löwen oder Göppingen strauchelten. „Der Sieg war verdammt wichtig“, betonte Ljubomir Vranjes. „Wir haben damit der Konkurrenz gezeigt, dass wir angreifen und entschlossen auf den dritten Platz schauen.“

Reinfall in Schaffhausen
Die Mannschaft bewegte sich in Sphären, die ihr niemand zugetraut hätte. Sie durfte sogar auf einen Titel hoffen: auf den EHF-Cup. Im Halbfinale gastierten die Kadetten Schaffhausen im hohen Norden. Der SG gelang nur ein knappes 31:30. Die Abwehr war die Enttäuschung des Abends. Am 1. Mai 2010 trat die SG in der Nähe des berühmten Rheinfalls an und musste einen sportlichen Reinfall verdauen. Nach 40 Minuten hatte der Bundesligist bereits wie der sichere Sieger ausgesehen, führte mit 18:13. „Urplötzlich haben wir aufgehört, unser Können abzurufen und agierten wie eine A-Jugend“, rätselte Alexander Petersson. Magere drei Tore in 20 Minuten – so drückte sich der kollektive Blackout in Zahlen aus.

Löwen-Party in der Campushalle
In der Bundesliga konnte die SG weder den HSV Hamburg noch den THW Kiel gefährden, hielt sich sonst aber schadlos und lag sechs Spieltage vor Schluss mit 42:14 Punkten auf Platz drei. Einen Zähler vor den Rhein-Neckar Löwen, die am 9. Mai in Flensburg erschienen. Per Carlén und Ljubomir Vranjes gelang es, ihre Truppe glänzend auf den starken Rückraum des Kontrahenten einzustellen. „Es hat einfach alles geklappt“, stimmte Lasse Svan in den Kanon ein. „Als ich zur Pause auf das Ergebnis schaute und wir mit elf Toren führten, wollte ich es gar nicht glauben.“ Es stimmte es stand 19:8.  Frühzeitig hatte sich der Flensburger Handball-Tempel in eine Partymeile verwandelt. Wenige Wochen später hielt der SG Bus am Deutschen Haus, wo viele Fans auf ihre Lieblinge warteten. Per Carlén zauberte vor den Fans einen Siegestanz auf die Bühne – mit nacktem Oberkörper und einem aufgemalten SG Emblem. Kurz darauf wirkte er nachdenklicher. „Nach der Sommerpause kommen die Schwierigkeiten“, sinnierte der Schwede. „Vor uns wird jeder gewarnt sein.“

Folge 20 am Montag: Ein Hamburger Störfeuer