Ein Hamburger Störfeuer

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 20

Grenzenlose Leidenschaft: Der Kader der SG Flensburg-Handewitt war im Sommer 2010 kurzfristig über drei Kontinente verteilt. Während Jacob Heinl mit der DHB-Auswahl in die US-Metropole Chicago gereist war, nahm sein Verein eine Einladung eines Sponsors in die Vereinigten Arabischen Emirate an. Viktor Szilagyi blieb in Deutschland. Der Wechsel des österreichischen Spielmachers war so kurzfristig über die Bühne gegangen, dass er die Zeit für private Dinge nutzen musste. Erfahrung brachten auch die beiden anderen Neuzugänge mit: der ungarische Linkshänder Tamas Mocsai und der dänische Torhüter Søren Rasmussen. Trotz des Zuwachses an Routine herrschte keine Euphorie. Die zusätzliche Belastung durch die Champions League erzeugte Respekt.

Ein Störfeuer näherte sich aus Hamburg. Dort hatte HSV-Präsident Andreas Rudolph den Journalisten gesteckt, dass er mit Per und Oscar Carlén bereits handelseinig sei und die beiden Schweden ab 2011 unter der HSV-Raute arbeiten würden. Offiziell gab es nur Dementis, sodass es in der Gerüchteküche loderte. Zunächst roch alles nach einem hanseatischen Versuch, beim Konkurrenten Unruhe zu stiften. Doch der Wahrheitsgehalt der Gerüchte bestätigte sich nach und nach. Unter diesen wilden Vorzeichen ging die Campushallen-Premiere gründlich daneben. Mit dem 29:33 gegen den Vorjahreselften SC Magdeburg hatte niemand gerechnet. „In vielen Spielen kann man mit einem Problem leben und gewinnen, aber nicht mit so vielen“, klagte der neue Kapitän Tobias Karlsson. Die SG schien sich von diesem Rückschlag zu erholen. Siege folgten.

Rückkehr in die Champions League
Die SG wurde mit einem umgemodelten Modus der Champions League konfrontiert. Allein zehn Spieltage erforderte die ausgedehnte Gruppenphase mit fünf Gegnern. Die SG musste in der Staffel D mindestens Vierter werden, um das Achtelfinale zu erreichen. Gleich zum Auftakt ging es zum Top-Favoriten Ciudad Real. Die Spanier agierten nach dem Seitenwechsel zielstrebiger. Der Widerstand der SG brach, sie fügte sich in eine 19:27-Niederlage. Panik löste dieser Rückschlag nicht aus. Neva St. Petersburg, Bosna Sarajevo und HCM Constanta erwiesen sich allesamt als schlagbar, ein vorzeitiges „Aus“ war nicht zu befürchten. Frühzeitig deutete sich ein Zweikampf mit dem HC Zagreb um Rang zwei an.

Das „Aus“ für Per Carlen
In der Bundesliga verlor die „Hölle Nord“ zunehmend ihren Nimbus. Die Füchse Berlin entfalteten Effizienz aus dem Rückraum und siegten mit 26:25. Im Landesderby am 13. Oktober 2010 war ein Erfolg fast schon Pflicht, um verlorenen Boden aufzuholen. Doch die Punkte gingen nach Kiel. Die Spitze war entrückt. Dafür flammte die Trainer-Frage wieder auf. Die Zweifel an den Qualitäten von Per Carlén wuchsen. Holger Kaiser hatte bereits einen Nachfolger in den eigenen Reihen entdeckt: Ljubomir Vranjes. Es wurde immer offensichtlicher, dass der Team-Manager den Coach in puncto Handball-Verständnis deutlich ausstach. Ausgerechnet jetzt musste die SG nach Hamburg. Der 6. November 2010 brachte die Erkenntnis, dass die absolute Spitze der Bundesliga für die SG ein gutes Stück entfernt lag. Danach war Per Carlén auf einen Spießrutenlauf vorbereitet. Er blieb bei seiner Version: Er bestätigte nicht, dass er ab Sommer auf der Bank der Hanseaten sitzen würde. Seine Worte überzeugten die Verantwortlichen allerdings immer weniger. Vorstand und Beirat trafen sich am 10. November 2010 zu abendlicher Stunde im Hotel „Alter Meierhof“. Sofortige Beurlaubung von Per Carlén – darüber war man sich schnell einig. Dann wurde der Plan B aus der Schublade hervorgekramt: Ljubomir Vranjes war nun nicht mehr nur Team-Manager, sondern auch Chef-Trainer.

Premiere für den jüngsten Bundesliga-Trainer
Praktisch über Nacht war Ljubomir Vranjes der jüngste Coach der Bundesliga geworden. Seine Feuertaufe hätte kaum kniffliger sein können: die Rhein-Neckar Löwen. Es entwickelte sich ein packender Kampf mit vielen Emotionen auf und abseits des Parketts. Lasse Svan traf 133 Sekunden vor Ultimo zum 32:31. Uwe Gensheimer scheiterte im Gegenzug an S øren Rasmussen. Dann hielt die SG den Ball in ihren Reihen – bis vier Sekunden vor Schluss. Es reichte. „Ich bin kein Zauberer, der in kurzer Zeit so viel bewirken konnte“, sagte Ljubomir Vranjes. „Das war auch der Sieg von Per Carlén.“ In seinem vierten Spiel als Trainer musste der kleine Schwede die erste Niederlage einstecken. Die SG verlor in Zagreb klar mit 26:31 und lag damit im Kampf um den zweiten Königsklassen-Rang gegenüber den Kroaten zurück. Auch in der Bundesliga verloren die Nordlichter weiteren Boden auf die Spitzengruppe.

Husarenstreich gegen Ciudad Real
Im Januar 2011 errang Dänemark mit sechs SG Akteuren Silber. Allerdings kehrten Michael Knudsen (Wade) und Thomas Mogensen (Knie) mit langwierigen Verletzungen zurück. Bei der ersten Bundesliga-Partie des Jahres – ein 36:26-Sieg über die TSV Hannover-Burgdorf – erlitt Oscar Carlén einen Kreuzbandriss. Was noch niemand ahnte: Etliche Komplikationen bei der Operation beendeten eine junge Karriere. Im SG Lager vertraute man auf das verbliebene Personal – und damit auch auf Tamás Mocsai, der nun als Alleinunterhalter im rechten Rückraum auftreten musste. Ausgerechnet als Top-Klub Ciudad Real seine Visitenkarte in der Campushalle abgeben wollte, hatte die SG nur acht Feldspieler zur Verfügung. Die 6000 Zuschauer befürchteten Übles, trauten dann ihren Augen nicht. Die SG agierte wie entfesselt, bis schwindende Kräfte am passablen Vorsprung nagten. Letztendlich erlöste Lasse Svan die SG 25 Sekunden vor Schluss mit dem 25:23-Endstand. Dieser Sieg trug mit dazu bei, dass Ljubomir Vranjes schnell an Reputation in der Trainer-Zunft gewann. Zugleich sicherte sich die SG durch diesen unerwarteten Erfolg Platz zwei in der Champions League.

Vier Langzeitverletzte
In den nächsten Wochen wurden die Jubel-Gesänge leiser oder wanderten gar ins gegnerische Lager. „Oh wie ist das schön“, sangen die Kieler nach einem glatten 38:26-Erfolg im Landesderby. So hoch hatte die SG gegen den Nachbarn noch nie verloren. Nach Großwallstadt flog die Mannschaft zwar erstmals seit ihrer Finanzkrise wieder zu einem Bundesliga-Match und zitterte sich zu einem Sieg, sie musste aber auch den nächsten Ausfall verkraften. Petar Djordjic brach sich den Daumen der Wurfhand. Er war der vierte SG Akteur, der langfristig ausfiel. Als dann auch noch Abwehr-Stratege Tobias Karlsson mit einer Lungenentzündung das Bett hüten musste, war mit einem Rumpfkader gegen den designierten Meister HSV Hamburg nichts auszurichten. Mehr als der sechste Rang war so in der deutschen Beletage nicht drin.

Trotz personellen Engpasses ins königliche Viertelfinale
Die Personalsorgen ließen sich auch auf dem internationalen Parkett nicht ausblenden. Zum Achtelfinale ging es nach Szeged. Zumindest konnte Michael Knudsen nach längerer Pause wieder mitwirken. Viktor Szilagyi brachte den ungarischen Vize-Meister immer wieder in Verlegenheit und erzielte sechs Tore. Am Ende hatte die SG tatsächlich mit 27:26 gewonnen. Das Rückspiel war nur Formsache. Im Viertelfinale wartete auf die Norddeutschen allerdings ein ganz anderes Kaliber. Wie schon in der Gruppenphase traf die SG am 21. April 2011 erneut auf Ciudad Real. Diesmal mutierte der Abend in der Campushalle zum Alptraum. Die höchste Heimniederlage in der Vereinsgeschichte, ein desaströses 24:38, hatte verbale Konsequenzen. „Ich bin nicht für berghoch, bergrunter“, sagte ein angefressener Ljubomir Vranjes. „Aber wir werden heute sehr lange in der Kabine bleiben.“ Die Mannschaft zeigte im Rückspiel Charakter und verabschiedete sich mit einem 22:21-Erfolg in Ciudad Real mit Anstand aus der Königsklasse.

Einzug ins Pokal-Finale
Erstmals seit 2007 erreichte die SG wieder das Final Four in Hamburg. Dort hatten Selbstvertrauen und Kader wieder ein breiteres Format. Außer Oscar Carlén und Petar Djordjic waren alle Mann an Deck. Die SG trat am 7. Mai 2011 ganz anders gegen die Rhein-Neckar Löwen auf als noch wenige Wochen zuvor in Mannheim (31:41) und zwang den Kontrahenten mit 22:20 in die Knie. Für die in Ekstase ausbrechenden SG Schlachtenbummler war es ein Augenschmaus, wie sich nach dem Schlusspfiff eine Jubeltraube um den überragenden Keeper Søren Rasmussen bildete. Der Däne wurde zum besten Torwart des Turniers gekürt. Im Finale wartete der THW Kiel, der schnell dominierte. Ljubomir Vranjes stellte schließlich fest: „Zwei Tage hintereinander gegen zwei Spitzenmannschaften zu spielen – das ist für meine Spieler im Moment noch zu hart.“

Folge 21 am Mittwoch: Süßer Abschied vom Europacup der Pokalsieger