Ein emotionales Wiedersehen

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 14

Am 17. April 2005 ähnelte die Szenerie auf dem ersten Blick den üblichen Vorgängen, wenn im Sport ein Titel vergeben wird. Die Spieler des THW Kiel saßen enttäuscht auf dem Boden, die der SG Flensburg-Handewitt bejubelten den DHB-Pokal. Dann rückte ein Akteur in den Mittelpunkt, der gar nicht gespielt hatte: Christian Berge. Der krebskranke Norweger war extra aus dem heimischen Trondheim angereist. „Dieser Titel ist ihm gewidmet“, sagte Kapitän Sören Stryger. „Das ist das Mindeste, was wir für ihn tun können.“

Es war der 1. November 2004, als die SG am späten Nachmittag über die schwere Erkrankung von Christian Berge unterrichtete. Mit einem Schlag war das sportliche Geschehen nebensächlich. Dabei sollte die Saison unter einem ganz anderen Motto stehen: Nach der ersten deutschen Meisterschaft dominierte ein Erwartungsdruck, der die Titelverteidigung einforderte. Aber schon die Testphase verlief nicht gut und gipfelte im Abbruch eines Trainings-Camps auf der dänischen Insel Lolland – weil zu viele Spieler an Blessuren laborierten. Und Neuzugang Blazenko Lackovic traf zwar mit der olympischen Goldmedaille ein, hatte allerdings ein „Reiz-Knie“ aus Athen mitgebracht. Er verpasste den Super Cup in Dessau, den die SG dem HSV Hamburg überlassen musste, und auch die ersten beiden Bundesliga-Spiele. Dann feierte Blazenko Lackovic sein Debüt in der „Hölle Nord“ – ausgerechnet gegen den THW Kiel. Es waren aber andere Akteure, die den 25:21-Erfolg sicherstellten. Jan Holpert gewann das Torwart-Duell, der Mittelblock mit den beiden Norwegern Johnny Jensen und Glenn Solberg bestach.

Zahlreiche bemerkenswerte Ergebnisse
Ein Paukenschlag signalisierte, dass der Titelverteidiger zu großen Taten fähig sein würde. Mit einem glatten 39:32 beim SC Magdeburg beendete die SG ihre „schwarze Serie“ an der Elbe. Christian Berge hatte am Bildschirm mitgefiebert. In der Halbzeitpause schickt er eine SMS: „Das macht Spaß, euch zuzugucken. Weiter so, Jungs!“ Seine Kollegen drückten kräftig aufs Gaspedal. Im DHB-Pokal stürmten sie in Lübbecke zu einem 47:39. 86 Tore – so viele hatte es bis dahin noch nie im deutschen Profi-Handball gegeben. Auch der Heimsieg gegen die SG Wallau-Massenheim war rauschend. 20:10 hieß es bereits nach 27 Minuten. Als Zugabe feierte die „Hölle Nord“ die Tabellenführung in der Bundesliga. Zum Jahreswechsel konnte die Laune im hohen Norden kaum besser sein. Die SG (31:5) lag hinter dem THW Kiel (32:4) in Lauerstellung, hatte die übrige Konkurrenz aber bereits distanziert. Und dann dieses: Am 2. Januar 2005, beim Sieg über Minden, sprang Christian Berge nach einer Viertelstunde aufs Spielfeld und erntete frenetischen Applaus, an dem sich sogar einige Akteure der Gäste beteiligten.

Ein Landesderby mit Tumult
Der Wiederbeginn nach der Weltmeisterschaft in Tunesien hatte es in sich. Schon mit dem Viertelfinale im DHB-Pokal stand viel auf dem Spiel. Mit einem 33:27 beim HSV Hamburg zog die SG zum dritten Mal in Serie ins Final Four ein. „Wenn wir jetzt auch noch in Kiel gewinnen sollten“, versprach Thorsten Storm, „gibt es im Sommer eine Woche gemeinsamen Club-Urlaub auf Mallorca.“ Fast hätte es geklappt. Die Kieler Ostseehalle erlebte einen Krimi. Die letzten Sekunden wurden Handball-Geschichte. Die SG führte mit 26:25, der THW musste alles auf eine Karte setzen. Sebastian Preiß betrat als siebter Feldspieler das Parkett. Acht Sekunden später glich Marcus Ahlm aus. Johnny Jensen sah das verwaiste Kieler Tor, wurde beim Ausführen der „schnellen Mitte“ aber von Stefan Lövgren attackiert. Schläge in den Rücken und an den Kopf paarten sich mit Revanche-Hieben. Prompt bildete sich ein Tumult, Polizeibeamte rannten aufs Parkett. Mittendrin die perplexen Referees, die den beiden Protagonisten der unschönen Schlussfrequenz den roten Karton zeigten. Es hätte Siebenmeter geben müssen.

Ein letzter Freiwurf für Montpellier
Das Momentum sprach für die SG. Sie schraubte ihre Erfolgsserie bis Anfang März auf 29:1 Zähler. „Göppingen, Göppingen, Göppingen“ – immer wieder hallte der Traditionsname durch die gut gefüllte Campushalle, während auf dem Spielfeld die SG die HSG Nordhorn niederrang. Die Schwaben hatten überraschend einen Punkt aus Kiel entführt, womit die SG an die Tabellenspitze sprang. Beide Nordklubs hatten nunmehr 40:6 Punkte auf dem Konto. Gerade so schön in Schwung unterbrach die Reise nach Montpellier den Rhythmus. Die SG brach völlig ein, verlor das erste Viertelfinale der Champions League mit 22:36. Beim Rückspiel waren die Verhältnisse der ersten Begegnung auf den Kopf gedreht. 70 Sekunden vor Ultimo erzielte Christian Berge tatsächlich das 32:18. Das Halbfinale winkte, dieses Ergebnis würde reichen. Die Campushalle glich einem Tollhaus. Die Referees gaben den Franzosen einen letzten Freiwurf. Gregory Anquetil konnte den Ball an der Mauer vorbeiwerfen, Johnny Jensen die Flugbahn nicht mehr stören und Jan Holpert seine Beine nicht mehr rechtzeitig schließen. Der Ball zappelte im Netz. Der Schock lähmte die „Hölle Nord“, die verstummte.

Wechsel in der Bundesliga-Tabelle
Dieses bittere Ausscheiden hatte Folgen: Die Mannschaft fiel in ein mentales Loch. Nur drei Tage später, in Großwallstadt, rannte die SG von Anfang an einem Rückstand hinterher, konnte diesen auch in der Schlussphase nicht mehr wettmachen und verlor mit 25:27. Der THW Kiel zog in der Tabelle vorbei und hatte in puncto Meisterschaft nun wieder alle Trümpfe in der Hand. Christian Berge erreichte derweil eine neue Hiobsbotschaft: Der Krebs meldete sich zurück. Der Norweger reiste sofort nach Trondheim und bereitete sich auf eine Chemotherapie vor. Natürlich blieb er in Kontakt mit seiner Mannschaft und überraschte sie einen Tag vor dem Final Four.

Zwei Pokal-Krimis in Hamburg
Die Hamburger Pokal-Endrunde hatte einen denkwürdigen Charakter. Zunächst lieferten sich die Nordlichter und die HSG Nordhorn einen Kampf über 70 Minuten. Der „Krimi“ entschied sich erst in der letzten Minute. Aus spitzem Winkel zauberte Lars Christiansen den Ball ins Netz. Den Rest besorgten Jan Holpert, der gegen Jan Filip parierte, und Marcin Lijewski, der unter dem Jubel der 2500 mitgereisten SG Schlachtenbummler den 38:36-Endstand markierte. Am nächsten Tag die Fortsetzung: Im Finale gegen den THW Kiel dominierte die SG rund 40 Minuten, um dann in Kürze einen satten Vorsprung einzubüßen. Der Nordrivale führte plötzlich mit 23:24. Die SG behielt die Ruhe, stand dennoch bis kurz vor Schluss mit dem Rücken zur Wand. Dann hatte Andrej Klimovets seinen großen Auftritt. Die Treffer 30 und 31 gingen auf seine Kappe, ehe der Weißrusse 52 Sekunden vor dem Ende auf Kosten eines Strafwurfs gestoppt wurde. Sören Stryger verwandelte sicher. Lars Christiansen versetzte mit dem Schlussakkord zum 33:31 den eigenen Anhang in Ekstase. „Das ist einfach Wahnsinn“, jubelte Christian Berge. Er feierte in Hamburg mit, reiste dann zurück nach Trondheim.

Eine Gala für Christian Berge
Um den bis 2006 unter Vertrag stehenden Andrej Klimovets entzündeten sich viele Diskussionen. Schließlich wechselte der Kreisläufer zur SG Kronau-Östringen. Die Personalie wirbelte viel Staub auf, ging aber im Kampf um die Meisterschale unter. Das Rennen ähnelte dem zwischen Hase und Igel. Egal wie überzeugend die SG auch auftrat, die Kieler legten immer wieder vor. Bis zuletzt verteidigten sie ihr Zwei-Punkte-Polster. „Wir müssen uns nicht schämen“, sagte Kent-Harry Andersson. „Wir haben weniger Minuspunkte als im Vorjahr, als wir Meister waren. Und den Pokal haben wir auch wieder.“ Und dann folgte noch eine Gala – für den an Krebs erkrankten Christian Berge. Er gerade die dritte Phase der Chemotherapie abgeschlossen und schritt über das Spielfeld der „Hölle Nord“ und erntete dabei tosenden Applaus. Er war sichtlich gerührt. „Es ist heute kein Abschied – es ist ein Wiedersehen.“

Folge 15 am Mittwoch: Nackenschläge zum Weihnachtsfest