Ein Derby-Weihnachtsgeschenk

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 22

Es war ein Zeichen für ein wieder errungenes Renommee, dass die SG Flensburg-Handewitt am 21. August 2012 nach München reisen durfte und als Vize-Pokalsieger erstmals seit sieben Jahren am Super Cup mitwirken durfte. Gegen den THW Kiel fehlte nicht viel. Spieler und Trainer ärgerten sich ein wenig über einige Missgeschicke. Doch die rückten in den Hintergrund eines Unfalls. Petar Djordjic sorgte noch für den 18:19-Anschluss, dann rutschte er aus und zog sich einen Kreuzbandriss zu. Die Nordlichter reagierten und angelten sich Arnor Atlason vom insolventen Klub AG Kopenhagen.

Bereits während der Vorbereitung waren die beiden anderen Neuzugänge eingestiegen. Der 35-jährige Maik Machulla sollte den immens geforderten Thomas Mogensen unterstützen, ergatterte aber kaum größere Einsatzzeiten und übernahm Aufgaben eines Co-Trainers. Steffen Weinhold löste im rechten Rückraum Tamas Mocsai ab und strebte nach Jahren im Abstiegskampf mit dem TV Großwallstadt nach Höherem. Der Europacup der Pokalsieger sowie das Vize-Double auf der nationalen Bühne ließen die Erwartungen wachsen – extern wie auch intern. Als die SG ein Vorbereitungsturnier beim THW Kiel erfolgreich bestritten hatte, lehnte sich Anders Eggert weit aus dem Fenster: „Es macht natürlich Spaß, hier zu gewinnen – daran müssen sich die Kieler gewöhnen.“ Der Linksaußen und fünf seiner Kameraden waren erst Mitte August in den SG-Stall zurückgekehrt, als die Olympischen Spiele von London ausgeklungen waren. Tobias Karlsson und Mattias Andersson erlebten mit der schwedischen Silbermedaille eine „unglaubliche Reise“.

Eine ungewöhnliche Terminhatz
Der Terminplan war dicht. Gerade die Rückkehr in die europäische Königsklasse war mit zusätzlichen Strapazen verbunden. Der parallel laufende Bundesliga-Spielbetrieb und die fehlende Hoheit über die Campushalle sorgten im Herbst für eine extreme Spitze: vier Auswärtsspiele in nur zehn Tagen. 4500 Buskilometer und eine Flugreise auf den Balkan wurden zurückgelegt. Die erste Hürde nahm die SG geschmeidig: 29:23 in Großwallstadt. Drei Tage später musste man sich mit einem 31:31-Remis bei der HSG Wetzlar begnügen. Dann machten das Fernsehen und ein unverhoffter Umzug der SG zu schaffen: „Eurosport“ wünschte eine Ausstrahlung der Begegnung am Sonntagabend, und der Gegner Partizan Belgrad wich nach Nis aus. Für die SG bedeutete das: rund 500 zusätzliche Bus-Kilometer. Sportlich hatte die SG trotz Tumulten auf den Rängen alles im Griff. Der SG Clan musste sofort umschalten, da der TV-Sender „Sport1“ am Dienstagabend auf sein „Spiel der Woche“ pochte. Die SG flog am Montag weiter nach Frankfurt. Verzögerungen am Flughafen – das geplante Training in Kronau musste ausfallen. Dennoch roch die SG lange am Punktgewinn, musste sich aber mit 27:30 geschlagen geben. „Die Körper und Köpfe meiner Spieler sind jetzt ganz leer“, meinte Ljubomir Vranjes. Kurios: Als nächstes folgten zwei Heimspiele binnen 48 Stunden – und zwei Siege gegen Chekhovskie Medvedi und TBV Lemgo.

Ein unglückliches Debüt
Angesichts der Spielplan-Kapriolen ging es fast unter, dass die SG ihren Rhythmus gefunden hatte. Da kam eine Länderspiel-Pause höchst ungelegen. Zudem laborierte Lasse Svan nach dem dänischen Lehrgang an einer Dehnung im Wadenbereich. Manager Dierk Schmäschke rief bei Florian von Gruchalla an. Der 23-jährige Rechtsaußen hatte sich gerade arbeitslos gemeldet, da Post Schwerin in den Konkurs geschlittert war. 48 Stunden später trug er im Landesderby das SG-Trikot mit der Rückennummer 25 – und verletzte sich ebenfalls. Er war mit dem Fußgelenk umgeknickt. Kiel siegte 34:27. Während dieser Rückschlag eingeplant war, traf der nächste die SG umso heftiger. Bei der TSV Hannover-Burgdorf kassierte sie mit dem Schlusspfiff das 28:29. Auf Ljubomir Vranjes, der alles andere als Lobeshymnen erntete, lastete großer Druck. Mit satten acht Minuspunkten drohte das Absacken ins Mittelfeld. Gegen Magdeburg glückte mit viel Kampf die Rehabilitation.

Der Husarenstreich von Montpellier
Die SG musste nach Petar Djordjic zwei weitere längerfristige Ausfälle verkraften. Lars Kaufmann laborierte an einer Meniskus-Blessur, Arnor Atlason riss die Achillessehne am linken Fuß. Die SG wurde erneut auf dem Transfermarkt aktiv und holte den isländischen Halblinken Olafur Gustafsson, der zunächst aber nur in der Bundesliga eingesetzt werden konnte. In der Champions League schrieb die Partie in Montpellier ein besonderes Kapitel. Es fehlte auch Maik Machulla, der nach einer Trainings-Einheit in der Dusche ausgerutscht war und sich einen Zeh gebrochen hatte. Auch ohne vier Rückraumasse siegte die SG in Südfrankreich mit 27:25 und buhlte zusammen mit dem HSV Hamburg und Chekhovskie Medvedi um den Sieg in der Gruppe A.

Geschenke am zweiten Feiertag
Mit dieser prekären Personalsituation ging es in einen echten Weihnachtsknüller: das Landesderby. Das magere 27:24 bei Schlusslicht Essen war gewiss keine Empfehlung. Die Befürchtungen verwandelten sich in pure Freude. Nach 14 vergeblichen Anläufen in den letzten fünf Jahren besiegten die Gastgeber den Top-Favoriten THW Kiel mit 35:29. Zuschauer und Spieler jubelten, tanzten und sangen gemeinsam. Das Verwunderlichste an diesem rauschenden Erfolg: Während der Gast im Rückraum permanent rotierte, aber vergeblich nach dem Rhythmus suchte und häufig am überragenden Mattias Andersson scheiterte, kamen die Hausherren mit nur acht Feldspielern aus. Wenn Holger Glandorf mal eine Pause brauchte, entschied sich Ljubomir Vranjes für eine ungewohnte Aufstellung mit einem zweiten Kreisläufer. „Vielleicht war unser überschaubarer Kader auch ein Vorteil“, glaubte Michael Knudsen. „Jeder von uns wusste, dass es auf ihn ankam und er bedingungslos kämpfen musste.“

Holprige Reise nach Moskau
Nach der WM-Pause zog die SG mit einem 24:20 über die Rhein-Neckar Löwen ins Final Four des DHB-Pokals ein. In der Champions League war der Gruppensieg des HSV Hamburg nicht zu verhindern. Die SG musste einen Drahtseilakt überstehen, um den zweiten Platz vor Chekhovskie Medvedi zu verteidigen. Es begann mit der Reise. Die SG buchte wegen eines Streiks am Hamburger Flughafen um, wählte eine Route über Berlin und startete bereits einen halben Tag früher gen Moskau. In Russland rannte die SG lange einem Rückstand hinterher. Für das Achtelfinale drohten so Duelle mit Kiel oder Berlin. In der Schlussminute holte Jacob Heinl einen Siebenmeter heraus, den Anders Eggert zum 29:29-Ausgleich verwandelte. Der russische Rivale war hauchdünn auf den dritten Rang distanziert.

Das Ende einer stolzen Serie
In der Bundesliga hielt sich die SG weitgehend schadlos und baute ihre stolze Bilanz bis zum 20. März 2013 auf 25:1 Punkte in Serie aus. Dann rangen die Nordlichter auch die Rhein-Neckar Löwen mit 30:27 nieder. Zugleich patzte Spitzenreiter THW Kiel in Göppingen. „Wir holen den DHB-Pokal und werden deutscher Meister“, sangen die Fans auf der Nordtribüne. Eine Woche später erhielten die Titelhoffnungen einen Dämpfer. Die SG stand in Lemgo neben sich. Nach dem 22:27 folgte in Berlin die erhoffte Reaktion. Die 6:0-Abwehr und Mattias Andersson rührten buchstäblich Beton an. Die Füchse liefen in eine derbe 16:27-Klatsche. Immer klarer wurde, dass die SG nicht mehr zur Meisterschaft vorstoßen, aber erneut die Champions-League-Plätze erreichen würde. Auf dem internationalen Parkett zitterte sich die SG gegen Gorenje Velenje ins Viertelfinale.

Kein Happyend im Handball-Wembley
Die SG Fans begleiteten ihr Team wieder in Scharen ins Handball-Wembley an der Elbe. Gegen den HSV Hamburg entwickelte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die letzte Minute: Holger Glandorf zog ab. HSV-Schlussmann Johannes Bitter erwischte den Ball erst hinter der Linie. Die Schiedsrichter verweigerten dem Treffer dennoch die Anerkennung. Der HSV roch am Sieg. Mattias Andersson, der in jener Saison zum besten Keeper der Bundesliga gekürt wurde, bewahrte die SG vor dem „Aus“. Wieder 23:23 – doch diesmal gab es Verlängerung. Michael Knudsen und ein Kuller-Ball von Lasse Svan brachten die SG mit zwei Treffern in Front. Es reichte, da Mattias Andersson die Hamburger mit weiteren Paraden entnervte. Das SG-Lager schwankte nach dem 26:25-Krimi zwischen Jubel und Vorfreude. Im dritten Anlauf gegen den THW Kiel deutete sich der ersehnte Coup an. 16:12 zur Pause – die Fans bewegten sich zwischen Ekstase und Verwunderung. Doch nach der Pause konterte der THW und machte mit einem 33:30 den Pokal-Hattrick perfekt. Die Unterlegenen verdrückten sich in die Dunkelheit der Arena.

Kurz vor Köln abgebogen
Erst am Abend, als rund 300 Fans ihre Lieblinge in der Lounge an der Flens-Arena empfingen, wich der Frust neuen Zielen. Tobias Karlsson forderte: „Wir wollen nach Köln, jetzt wollen wir unbedingt das zweite Final Four.“ Um dieses Vorhaben zu realisieren, musste die SG abermals den HSV Hamburg ausschalten. Nur eine Woche nach dem Pokal-Krimi tauchten die Hanseaten in der „Hölle Nord“ auf – und hatten das bessere Ende für sich. Besonders schmerzhaft war die Phase nach dem 21:17, als ein 1:10-Lauf alles auf den Kopf stellte. Trotz einer 26:32-Schlappe drehte die SG im Rückspiel nochmals auf. Die HSV-Fans befanden sich in einer Schockstarre, als die Gäste nach einem Gegenstoß von Anders Eggert mit 16:23 führten. Dann bröckelte die Disziplin. So entgingen den Gästen die 100.000 Euro, die in Köln als Antrittsprämie gezahlt wurden.

Folge 23 am Montag: Die Helden von Köln