Die Helden von Köln

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 23

Seit zwei Stunden ging es nur bergauf. Schotter und Steine prägten den Weg, dann endlich hatte der Aufstieg ein Ende. Die Handballer der SG Flensburg-Handewitt standen auf einem Berggipfel. Ihre Blicke wanderten über eine eindrucksvolle norwegische Fjord-Landschaft. Dem Alltag weit entrückt fing manch einer der Gipfelstürmer an zu träumen – von sportlichen Lorbeeren und Siegen. Niemand ahnte, dass sie nur zehn Monate später gemeinsam den europäischen Handball-Gipfel stürmen würden.

Für diesen sportlichen Husarenstreich wurde Ende Juli der Grundstein gelegt. Ein Spieler fehlte allerdings: Lars Kaufmann. Er musste zwei Mal am Knie operiert werden und fiel die ganze Saison aus. Da für die halblinke Position nur noch Olafur Gustafsson zur Verfügung stand, entschlossen sich die Verantwortlichen zu einem Blitz-Transfer: Drasko Nenadic. Während bei dieser Verpflichtung der Zufall Pate stand, waren die anderen Neuzugänge das Ergebnis eines langfristigen Scoutings unter sparsamer Prämisse. Die SG holte unerfahrene Talente mit großen Perspektiven. Das galt für den serbischen Rechtsaußen Bogdan Radivojevic ebenso wie für den schwedischen Linksaußen Hampus Wanne und auch für das 20-jährige Rückraumjuwel Jim Gottfridsson. Wenige Wochen später glänzten die Neuzugänge mit zwei nahezu akzentfrei ausgesprochenen Wörtern: „Deutscher Meister!“ Ljubomir Vranjes schüttelte da nur mit dem Kopf. „Das sind junge Leute, die nicht wissen, worüber sie reden“, sagte er. „Für mich ist immer noch der THW Kiel der Favorit.“

Ein kleiner Titel
Der Super Cup in Bremen, bei dem die SG als Vize-Meister und Vize-Pokalsieger den THW Kiel herausforderte, forcierte am 20. August 2013 das Gerede über einen Favoritenstatus. Mit einem 29:26 fuhr die SG zum zweiten Mal diesen ersten kleinen offiziellen Titel ein. „Ich will diesen Erfolg nicht schlecht reden“, sprach Ljubomir Vranjes. „Aber wir haben heute keine zwei Punkte geholt, das ist nur der Abschluss einer anstrengenden Vorbereitung.“ Rund lief es noch nicht. Spätestens mit der 27:29-Niederlage beim SC Magdeburg zeigte sich, dass im Rückraum eine Baustelle klaffte. Im Spiel bei den Rhein-Neckar Löwen breitete sich eine Hilflosigkeit wie ein Flächenbrand über die gesamte zweite Reihe der SG aus. Nach dem 22:29 redete Ljubomir Vranjes Tacheles: „Wir sitzen alle in einem Boot, und wir können aus diesem die ganze Saison nicht aussteigen.“ Der Motor stotterte jedoch weiter. In Lübbecke drehte die SG erst nach einem Pausen-Rückstand auf, gegen die Füchse Berlin erzitterte sie ein glückliches Remis.

Platz zwei in der Champions-League-Gruppe
In den nächsten Wochen behauptete sich die SG gegen die Kontrahenten aus Mittelfeld und Tabellenkeller durchweg und kletterte in der Bundesliga immer weiter gen Spitze. Derweil hatte die Vorrunde in der Champions League begonnen. „Wir wollen die gesamte Distanz bis Köln meistern“, erklärte Tobias Karlsson: „Unser erstes Ziel muss daher lauten: Gruppensieg.“ Als ärgster Widersacher in der Staffel D galt der HSV Hamburg. Von den anderen Kontrahenten musste der dänische Meister aus Aalborg am meisten beachtet werden. Zum Rückspiel in Nordjütland fuhren nicht weniger als sechs Fan-Busse. Über weite Strecken boten beide Teams einen munteren Schlagabtausch. Aalborg schaffte den 26:26-Ausgleich. Wenig später erkämpfte sich Thomas Mogensen einen Siebenmeter, den Steffen Weinhold kaltschnäuzig zum Siegtreffer vollstreckte. Damit war klar, dass die SG zumindest als Zweiter sicher ins Achtelfinale kommen würde. Das Nordduell in Hamburg brachte eine Überraschung: In der SG Aufstellung stand weitgehend die zweite Reihe. „Ich wollte gewinnen, aber ich wollte das mit Spielern tun, die nicht so oft dabei sind“, betonte Ljubomir Vranjes. „Einsatzzeiten in solch wichtigen Spielen sind für die Entwicklung der jungen Akteure wichtig.“ Nur: Nach dem 27:32 an der Elbe war der Gruppensieg außer Reichweite.

Kalte Dusche nach EM-Silber
In der Bundesliga lief es immer besser. Selbst der THW Kiel musste die Segel streichen. Die SG sauste am 24. November 2013 auf einer Welle der Begeisterung an die Tabellenspitze. Balingen, Eisenach und Minden – die nächsten Pflichtaufgaben absolvierte die SG souverän. Es war aber offenkundig, dass bei einigen SG Akteuren nach anstrengenden Monaten der Akku leer war. Im DHB-Pokal zitterte sich die SG zu einem 27:26-Erfolg in Aue. In Göppingen war es nur der Wurfkraft von Holger Glandorf und der Nervenstärke von Anders Eggert an der Siebenmeter-Linie zu verdanken, dass die SG zumindest ein 28:28-Remis rettete. Die Europameisterschaft im Januar versprach den gewohnten Tapetenwechsel für die Profis. Im Finale zerstörten schließlich die Franzosen mit einer brutalen Souveränität den Goldtraum von Lasse Svan, Thomas Mogensen, Anders Eggert und Michael Knudsen. Nach diesem sportlichen Albtraum hätte sich das dänische SG Quartett am liebsten für mindestens eine Woche von der Außenwelt abgeschirmt. Doch nur drei Tage später mussten sie sich bei der SG zurückmelden; denn es stand sofort ein Weichen stellendes Spitzenspiel an. Der 5. Februar 2014 begann mit einer schillernden Choreographie in blau und weiß, endete aber mit dem Einsturz einer imposanten Bundesliga-Festung. Nach 37 Spielen erlitt die SG wieder eine Heimniederlage. Das 23:27 gegen die Rhein-Neckar Löwen dämpfte die Titelhoffnungen rapide.

Unglückliches Pokal-Finale
Angesichts diverser Sorgen drosselte Ljubomir Vranjes den Trainingsaufwand und dosierte die Einsätze seiner Akteure. Das Kalkül ging auf: Bei der HSG Wetzlar wurde nach hartem Kampf das Ticket für die Pokalendrunde gelöst. In der Bundesliga kanzelte die SG ihre März-Gegner allesamt souverän ab. Mit letzter Kraft wurde im Achtelfinale der Champions League Celje ausgeschaltet. Das Lazarett lichtete sich zum richtigen Zeitpunkt: Am 12. und 13. April 2014 befand sich der DHB-Pokal im Fokus. Im Halbfinale warteten die Rhein-Neckar Löwen. Rund 2000 erwartungsfrohe SG Fans fielen an der Elbe ein und feierten einen souveränen 30:26-Erfolg. Im Endspiel gegen die Füchse Berlin startete die SG traumhaft mit 7:2. Dann geriet die SG aus dem Tritt. Es wurde dramatisch. Kurz vor Schluss hieß es 22:21 für die Berliner. Steffen Weinhold prallte an der Füchse-Abwehr ab und wunderte sich, dass er keinen Strafwurf erhielt. Holger Glandorf scheiterte unter Bedrängnis. 75 Sekunden vor Schluss hatten die Hauptstädter den Ball und hielten ihn bis zum letzten Wimpernschlag, obwohl sie keinen spürbaren Drang gen Gehäuse erzeugt hatten. „Da kann man nicht den Mantel der Nächstenliebe drüberlegen“, wetterte Dierk Schmäschke über die Pfiffe der Schiedsrichter. „Was in den letzten zwei Minuten passiert ist, geht gar nicht.“ Der DHB-Pokal wanderte an die Spree. „Sport“, sagte Ljubomir Vranjes, „ist ab und zu brutal. Heute war er besonders brutal zu uns.“

Ein cooler Siebenmeter in Skopje
Die Mannschaft fuhr nicht direkt nach Hause, sondern sprach sich aus. In der Königsklasse lag der erstmalige Einzug ins Kölner Final Four in greifbarer Nähe. Vardar Skopje, der zugeloste Kontrahent im Viertelfinale, besaß längst nicht das Renommee wie Veszprém, Barcelona oder Kiel, die allesamt auch als Gegner in Frage gekommen wären. Am Ostermontag lautete der Entstand in der „Hölle Nord“ 24:22 für die SG. So war klar: In der brodelnden Atmosphäre der Arena „Boris Trajkovski“ war Nervenstärke erforderlich. Zwischenzeitlich führte der Gast mit sechs Toren, stand dann aber am Abgrund. 27:23 hieß es für Skopje, als die letzten zwei Minuten anbrachen. In einfacher Überzahl traf Holger Glandorf, der Gegenzug endete mit einer Parade des eingewechselten Søren Rasmussen. Ein einziges Tor fehlte. Holger Glandorf gab sich einen Ruck, ging dorthin, wo es weh tat, und erhielt einen Strafwurf. Anders Eggert blieb cool, holte gar nicht aus und ließ den Ball ins Netz platschen. 27:25! Spieler und Anhang tanzten auf dem Spielfeld: Köln rief.

Noch mehr Siebenmeter
Die Konzentration galt aber vorerst der Bundesliga. Die SG sicherte die Teilnahme an der nächsten Champions League ab. Das 26:20 am letzten Spieltag in Eisenach war kein Ruhmesblatt, sondern eine verpatzte Generalprobe. Michael Knudsen: „Wenn wir so spielen wie heute, müssen wir gegen Barcelona erst gar nicht antreten.“ Natürlich trat die SG an. Und der 31. Mai 2014 sollte zu einem der größten Tage in der Vereinsgeschichte werden. Die Körpersprache war eine ganz andere. Die Fans berauschten sich, als Holger Glandorf auf 21:18 erhöhte. Plötzlich durchschritt die SG ein Tief. Barcelona spulte seine Routine ab, wähnte sich acht Minuten vor Schluss auf der Siegerstraße. Es stand 32:26 für den Favoriten. Ljubomir Vranjes brachte seine Youngsters und ließ immer offensiver decken. Bogdan Radivojevic zum 30:32, Holger Glandorf zum 31:32. Die Sekunden zerrannen. Barcelona tappte in die Zeitspiel-Falle, die SG bekam den Ball. Holger Glandorf sauste davon und donnerte die Kugel eine Sekunde vor Ultimo ins Eck. Verlängerung! Die SG, die Fans – ja, die gesamte Arena war aus dem Häuschen. Auch nach 70 Minuten war keine Entscheidung gefallen. Es folgte ein unvergessliches Siebenmeterwerfen, das Hampus Wanne mit einem coolen Leger abschloss. Der 20-Jährige sank kurz auf die Knie, breitete die Arme aus und wurde dann von seinen heranstürzenden Mannschaftskollegen auf Händen getragen.

Mit großem Willen zur Handball-Krone
Am 1. Juni 2014 stand die SG zum dritten Mal nach 2004 und 2007 im Endspiel der Champions League. Sie begann äußerst nervös. Der THW Kiel eilte mit seinen gefährlichen Gegenstößen auf 12:6 davon. Sollten die Königsklassen-Träume frühzeitig im Rhein versinken? Duplizität der Ereignisse: Wie am Vortag brach ein Sechs-Tore-Rückstand den Willen nicht. Zur Pause führte Kiel nur noch mit zwei Toren. Danach war die SG obenauf. Lasse Svan passte quer durch den Kreis, Anders Eggert fing und vollendete in Kempa-Manier zum 20:19. Die erste SG Führung an diesem Tag hinterließ Wirkung beim THW, der nun stetig einem Rückstand hinterherrannte. 30 Sekunden vor Schluss fing Mattias Andersson den letzten Wurf. Die letzte halbe Minute war für Mannschaft, Umfeld und Anhängerschaft so schön, dass sie eigentlich nie hätte vergehen dürfen. Ljubomir Vranjes fiel auf die Knie, schlug die Hände vor sein Gesicht. Das Unfassbare war Realität geworden, der Trainer erlebte „das Ende einer unglaublichen Reise“. Die SG hatte zum ganz großen Wurf ausgeholt und sich die europäische Handball-Krone aufgesetzt.

Folge 24 am Mittwoch: Der letzte Siebenmeter