Der Super-Vize

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 9

Die Worte von Dierk Schmäschke schwirrten den Fans der SG Flensburg-Handewitt lange in den Ohren. „Nächstes Jahr werden wir deutscher Meister“, hatte der SG Geschäftsführer im Mai 1999 auf dem Südermarkt versprochen. Durch die Aufstockung der Bundesliga auf 18 Vereine sah sich die SG Führung dazu gezwungen, auf dem Transfermarkt tätig zu werden und den Kader um einen Akteur aufzustocken.

Sie bewies ein gutes Gespür und holte den Norweger Christian Berge aus seinem Vertrag bei Viking Stavanger heraus. Coach Erik Veje Rasmussen schätzte sich glücklich, mit drei gelernten „Dirigenten“ auf die unterschiedlichsten Situationen reagieren zu können. „Igor Lavrov spielt sehr dynamisch und unrhythmisch“, erklärte der Coach. „Roger Kjendalen spielt rhythmisch und kann das Tempo kontrollieren, und Christian Berge kann rhythmisch und schnell spielen.“ Den ersten Paukenschlag registrierten die SG Anhänger bereits am dritten Spieltag: Die Nordlichter distanzierten den vermeintlichen Mitfavoriten GWD Minden frühzeitig und marschierten zu einem 28:22-Auswärtssieg. Bestnoten verdiente sich Igor Lavrov, der danach allerdings in einem Autounfall verwickelt war und mit einem Schlüsselbeinbruch mehrere Wochen fehlte. Für die SG kein großes Problem. Als Erfolgsgeheimnis entpuppte sich eine Rotation, eine gewisse Unberechenbarkeit, in der Aufstellung.

Herbstmeister mit Schönheitsfehlern
Anfang Dezember hatte sich SG nach zehn Siegen in Reihe abgesetzt. 28:2 Punkte waren das Nonplusultra im Handball-Oberhaus. Vor dem Derby gegen den THW Kiel hofften die Fans auf einen weiteren Meilenstein. Doch es kam anders: Während die SG Akteure nach dem Schlusspfiff fluchtartig die Halle verließen, vollführten die Kieler einen Siegestanz und feierten ein 26:22. Jan Holpert blickte unruhig nach vorne: „Diese Niederlage wird noch lange durch unsere Köpfe schwirren.“ Die Herbstmeisterschaft wanderte dennoch in den hohen Norden. Das Restprogramm barg allerdings seine Tücken: Nicht weniger als zehn der 16 ausstehenden Spiele hatte die SG in der Fremde zu bestreiten – wegen der ursprünglich geplanten, dann aber doch abgesagten Erweiterung der Fördehalle.

Rhythmusprobleme mit mehreren Ursachen
Die lange Pause wegen der Europameisterschaft in Kroatien war nicht unbedingt ein Vorteil. „Uns ging offenbar etwas von der Gruppendynamik verloren“, analysierte Erik Veje Rasmussen nach Niederlagen in Magdeburg und in Essen. Zudem störte eine lange Krankenliste den Rhythmus. Trotz aller Widrigkeiten hielt sich die SG weiterhin tapfer. Im EHF-Cup stieß sie ins Halbfinale vor, im DHB-Pokal glückte der Sprung ins Final Four, und in der Bundesliga behauptete man die Spitze. Mitte März hatte sich die Situation entspannt. Nur der THW Kiel vermochte zu folgen.

Ein dramatisches Pokalfinale
Im Endspiel um den DHB-Pokal kam es zu einem ersten direkten Aufeinandertreffen der beiden Rivalen. In der mit 4500 Zuschauern gefüllten Alsterdorfer Sporthalle knisterte es nur so vor Spannung. Morten Bjerre und Thomas Knorr inszenierten einen Kempa-Trick, der die Verlängerung einbrachte. Da agierten die „alten Schweden“ der Kieler abgebrühter. Thomas Knorr und „Faxe“ Jörgensen verkürzten noch auf 25:26. Doch die letzten Sekunden zerrannen, ohne dass die SG noch einmal den Ball erobern konnte. Die Mannschaft spülte ihren Frust in einer Flensburger Kneipe hinunter. Kapitän Jan Fegter stellte klar: „Dieses Spiel hat uns keinen Knacks versetzt, wir sind noch näher zusammengerückt.“

Große Präsenz in der Öffentlichkeit
Die SG blieb im Fokus der Öffentlichkeit. Beim Heimspiel gegen den TBV Lemgo schaute sogar  Bundeskanzler Gerhard Schröder vorbei und löste größere Sicherheitskontrollen in der Fördehalle aus. Die Partie endete 22:22. Im EHF-Cup hatte die SG nach einem furiosen Schlussspurt gegen den ABC Braga die Endspiele erreicht.  Gegen Metkovic Jambo, auf europäischer Ebene ein unbeschriebenes Blatt, winkte der Titel. Auch nach der knappen 22:24-Niederlage in Kroatien herrschte im SG Lager Optimismus. In der Tat: Nach 45 Minuten im Rückspiel roch alles nach dem dritten internationalen Triumph. 20:16 – die Fans stimmten erste zaghafte Siegesgesänge an. Doch Leichtsinn und Unkonzentriertheiten machten der SG einen Strich durch die Rechnung. 25:23 – wegen des mehr erzielten Auswärtstores hatte nun Metkovic die Nase vorn. Die letzten Sekunden agierte die SG in doppelter Überzahl. Thomas Knorr und Lars Christiansen scheiterten an Torwart Dragan Jerkovic. Während die Kroaten und ihre 120 mitgereisten Schlachtenbummler die Überraschung ausgiebig feierten, standen und lagen die SG Akteure wie versteinert auf dem Spielfeld der Fördehalle.

Die letzte Titel-Chance
In der Bundesliga war noch alles drin, doch in Dormagen spielten die Nerven nicht mit. Nach einer zweifelhaften Zeitstrafe stürmte Erik Veje Rasmussen auf das Spielfeld, um zu protestieren. Er sah den roten Karton. Auf der Tribüne musste der Trainer mit ansehen, wie sein Team mit 23:24 beim Abstiegskandidaten verlor. Die „Zebras“ nutzten die Gunst der Stunde und übernahmen die Tabellenspitze. Am 11. Mai 2000 blickte alles in die Kieler Ostseehalle. Der THW Kiel siegte mit 32:25. Ein Dämpfer für die SG, die nach Punkten aber am vorletzten Spieltag gleichzog. Am Ende hatte der THW 17 Tore Vorsprung und feierte die bis dahin knappste Meisterschaft der Bundesliga-Historie. Die Konkurrenz sprach vom „Ewigen Zweiten“, die SG selbst vom „Super-Vize“.

Folge 10 am Freitag: Die „Hexer“ von Leon