Der „schwarze Dezember“

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 18

Im Juli 2008 herrschte Zuversicht bei der SG Flensburg-Handewitt, einen überraschenden Umbruch zu meistern. „Wir hatten das Ziel, keinen Spieler zu verlieren“, beichtete Sportdirektor Anders Dahl-Nielsen. „Jetzt haben wir acht neue Spieler und einen neuen Co-Trainer.“ Als besonders extrem entpuppte sich der Kahlschlag im Rückraum, wo alles von Bord ging, was sich nicht Spielmacher nannte. Und bis auf Alen Muratovic und Lasse Boesen fiel keiner der Neuzugänge in die Kategorie „routiniert“.

Jemand, der den Umbruch besonders gut personifizierte, war Oscar Carlén. Der gerade erst 20-jährige schwedische Linkshänder galt als hochtalentiert und wurde mit großen Vorschusslorbeeren an der Flensburger Förde empfangen. Ungewöhnlich war die familiäre Konstellation, da Senior Per Carlén gleich mitverpflichtet wurde. Das imposante Wechsel-Volumen war noch nicht einmal voll ausgeschöpft, als im Glücksburger „Strandhotel“ bereits das neue Mannschaftsfoto geschossen wurde. Die SG handelte mit GOG Svendborg ein kurzfristiges „Tauschgeschäft“ aus: Kasper Nielsen gegen Rechtsaußen Lasse Svan, der als „schnellster Spieler Dänemarks“ galt. Ab dem 3. September 2008 schürte ein aufgepepptes Rahmenprogramm die Erwartungen der Zuschauer. Der Einmarsch der SG Akteure war durch eine Remix-Schleife gelaufen. Dann sprang eine riesige Möwe auf das Spielfeld: „SiGi“ hieß das neue Maskottchen. Der Auftakt verlief mühevoll, doch er brachte zahlreiche Siege. Allerdings beantwortete der relativ leichte Spielplan nicht alle Fragen zum tatsächlichen Leistungsstand.

Erste Rückschläge
Die SG ließ zunächst nur in Wetzlar einen Zähler. Diesen Punktverlust hätte Lasse Boesen um ein Haar mit einem „Zaubertor“ vermieden. Er trat beim Stand von 27:27 zu einem letzten Freiwurf an und hämmerte den Ball aus spitzem Winkel ins rechte, obere Eck. Doch die Schiedsrichter pfiffen diese Aktion zurück, da ein Wetzlarer Akteur zu früh aus der Mauer gesprungen war. „Der Gegner macht einen Regelverstoß, und wir werden dafür bestraft“, zürnte Lars Christiansen. Der Freiwurf musste wiederholt werden. Ein zweites Kunststück glückte Lasse Boesen allerdings nicht. Erst am 25. Oktober 2008 hatte die SG beim 26:33 in Magdeburg ein aussichtsloses Unterfangen erleben müssen. „Angesichts des Umbaus der Mannschaft müssen wir mit Rückschlägen rechnen und manchmal Lehrgeld zahlen“, meinte Kapitän Ljubomir Vranjes.

Eine verpatzte Weihnachtsfeier
Die Adventszeit begann vielversprechend: Die Füchse Berlin hatten in der Campushalle keine Chance. „Der Dezember wird ein schöner Monat“, glaubte Thomas Mogensen. „Ich freue mich so richtig auf die vielen Spiele gegen Spitzenteams.“ Im Verfolger-Duell beim TBV Lemgo durfte man bis in die Schlussphase hinein von zwei Zählern träumen. Am Ende fuhr die SG ohne Ausbeute, aber mit Frust nach Hause. Oscar Carlén hatte sich einen fatalen Fehlpass erlaubt, den der TBV zum Sieg verwertete.
Eine Woche später bewies die SG Mut und legte ihre große Weihnachtsfeier auf den Abend nach einer schweren Auswärtspartie. Die HSG Nordhorn hatte zwar fünf Mal in Folge verloren, schwamm sich gegen die SG frei und erzielte schließlich das 31:30. Die Enttäuschung bei den Gästen war riesig. Und da war ja noch die Weihnachtsfeier. 400 Gäste warteten in Flensburg. Die SG Spieler erschienen zu später Stunde und trotteten zur Bühne. „Es ist in dieser Situation schwer für uns“, ergriff Ljubomir Vranjes das Wort. „Aber schön, dass so viele da sind.“

Wechsel auf der Trainerbank
Bereits drei Tage später der nächste Hitchcock-Krimi: diesmal gegen die Rhein-Neckar Löwen im DHB-Pokal. Die Badener feierten einen hauchdünnen 27:26-Erfolg. „Fynn Holpert sagte: „Wir führen keine Trainer-Diskussion, aber Kent-Harry muss intensiv im psychologischen Bereich arbeiten.“ Der Coach war mehr als angezählt. Die SG Führung wollte den Nachfolger nicht gleich mit einer schier unlösbaren Aufgabe konfrontieren und wartete das Landesderby gegen den ungeschlagenen THW Kiel ab. Es kam, wie befürchtet: Die SG sah nach der Pause kein Land und fügte sich in eine 29:37-Niederlage. Bis in die Nacht saßen die Verantwortlichen in der Geschäftsstelle. Das Votum: Kent-Harry Andersson wurde mit sofortiger Wirkung freigestellt. Sein bisheriger Assistent Per Carlén wurde zum Chef befördert. Ljubomir Vranjes musste in dieser Situation das Ende seiner aktiven Laufbahn erklären und arbeitete fortan als Co-Trainer. Blessuren am Rücken, Knie und Fuß plagten ihn. Neuer Kapitän wurde Michael Knudsen.

Keine Wende mit neuem Personal
Per Carlén stellte sehr schnell erste Grundgedanken seiner Philosophie vor. Er wollte mehr die Breite des Kaders nutzen und verlangte mehr Disziplin. „Das werde ich mit mehr Härte durchsetzen“, betonte er. Das wirtschaftliche Konzept und die Gehälter der Spieler waren auf die erneute Königsklassen-Qualifikation ausgerichtet. Dementsprechend hatte die vorweihnachtliche Bundesliga-Begegnung gegen die Rhein-Neckar Löwen einen richtungsweisenden Charakter. Doch das Nervenkostüm spielte den Hausherren erneut einen Streich. Beim 29:30 machte sich die SG letztmals auf den Weg zum Löwen-Tor. Siebenmeter! Drei Sekunden vor dem Abpfiff stand Thomas Mogensen an der ominösen Linie. Er scheiterte an Slawomir Szmal, den Abpraller versenkte Oscar Carlén unter dem Jubel der „Hölle Nord“. Dann jedoch griff die Spielaufsicht ein. Sie überstimmte die Entscheidung der Referees. Kein Tor – die spontane Feier erstickte abrupt.

Verletzungspech und zwei Nachverpflichtungen
Der Januar, die Pause im Vereinsspielplan und die Weltmeisterschaft sollten die Wunden heilen. Aber auch beim globalen Endrunden-Turnier in Kroatien lief es für die SG Akteure nicht rund. Alen Muratovic war in Flensburg geblieben und kugelte sich bei einem Freundschaftsspiel die Schulter aus. Die Diagnose wurde von Tag zu Tag erschütternder. Für den Montenegriner war nicht nur die Saison beendet, er wurde Sportinvalide. Durch diesen dramatischen Ausfall war die Personaldecke ziemlich angespannt. Der Norweger Erlend Mamelund wurde kurzfristig verpflichtet. In seinem zweiten Spiel zog er sich allerdings eine Blessur am linken Sprunggelenk zu. Die Zeit drängte, da sich zum 15. Februar 2009 das Transfer-Fenster schloss. Blitzschnell entstand der Draht zu Jakob Thoustrup. „Ich würde sagen, ich war zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle“, sagte der Spielmacher des dänischen Erstligisten Fredericia. Mehr als der fünfte Bundesliga-Platz war für die SG nicht drin.

Mit einem Bein im Halbfinale der Champions League
In der Champions League erreichte die SG das Viertelfinale. Das 25:28 gegen den HSV Hamburg im eigenen Wohnzimmer bedeutete dann fast das Ende aller königlichen Träume. „Wir haben noch 60 Minuten“, sagte SG-Torwart Dan Beutler. „Wir werden kämpfen, auch wenn unsere Bank klein ist.“ Wider Erwarten brachte der 3. April 2009 eine denkwürdige Handballstunde. Die SG schaffte es, die ungleichen Voraussetzungen mit großem Einsatz und taktischer Disziplin zu kompensieren. Als nach der Pause Dan Beutler die HSV-Schützen zunehmend nervte, zog die SG auf 23:17 davon. Plötzlich war das Halbfinale so nah, geriet aber sofort wieder in weite Ferne, als Lasse Boesen zehn Minuten vor Schluss an die Seitenlinie humpelte und am Fuß behandelt werden musste. Der Däne schleppte sich zwar auf das Spielfeld zurück, der HSV nutzte aber die Schwäche der SG und verkürzte auf 29:31. Doch der Gast hatte sieben Sekunden vor Schluss den Ball – und doppelte Überzahl. Lasse Boesen zog sich als siebter Feldspieler ein graues Leibchen über. Ausgerechnet jetzt patzte Oscar Carlén. Seinen missglückten Pass konnte Thomas Mogensen nicht verwerten. Lars Christiansen hatte schon auf der Außenposition gelauert. „Ich wäre ins Tor geflogen, so frei stand ich“, ärgerte sich der Däne. Für die Nordlichter hagelte es dennoch Komplimente, für viele waren sie der moralische Sieger. Das Schulterklopfen vermochte die SG Akteure aber nicht aufzumuntern.

Folge 19 am Freitag: Erst Finanzprobleme, dann eine Feier