Der City-Cup als Trostpflaster

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 8

Bei der SG Flensburg-Handewitt herrschte Unklarheit über den eigenen Leistungsstand. Ein halbes Dutzend Spieler war vor der Saison 1998/99 ausgeschieden, Trainer Anders Dahl-Nielsen nach gut fünfjähriger Tätigkeit nach Dänemark zurückgekehrt. Sein Nachfolger und Landsmann Erik Veje Rasmussen, der als aktiver Handballer Weltklasse verkörpert hatte, als Übungsleiter aber nur Erfahrung aus der Schweiz mitbrachte, musste eine neue Abwehr formen. Er übertrug auf Matthias Hahn und Andrej Klimovets mehr Verantwortung.

Die Neuzugänge stachen. Thomas Knorr war beim THW Kiel zum Kreisläufer degradiert worden, blühte nun wieder auf seiner angestammten Position im Rückraum auf. Eine der großen Entdeckungen hieß Igor Lavrov. Der russische Spielmacher tanzte die gegnerischen Deckungen nach Belieben aus. Es lief bei den Nordlichtern auf Anhieb. 36:22 gegen Schutterwald, 35:25 gegen Niederwürzbach – die SG erreichte eine bis dahin unbekannte Angriffseffizienz. In den Fokus rückte immer mehr Lars Christiansen, der gegen Niederwürzbach nicht weniger als 13 Tore erzielte. Søren Haagen galt als großes Torwarttalent. Schnell zeigte sich, dass sich der 24-jährige Däne nicht mit der Rolle als Ersatzkeeper begnügen wollte.

Der Sprung an die Spitze
Für die „Überflieger” gab es auch Rückschläge. Beim VfL Bad Schwartau handelte sich die SG eine  unverhoffte 26:27-Niederlage ein. Der Schock saß tief – und es waren nur vier Tage Zeit bis zum Schlager gegen den THW Kiel, der nach 45 Minuten mit 18:17 die Nase knapp vorn hatte. Dann glückte Erik Veje Rasmussen der entscheidende Schachzug: Er ließ THW-Ass Magnus Wislander durch Jan Fegter in Manndeckung nehmen. Mit zwei Traumtoren – ein Heber von Christian Hjermind und ein durch Morten Bjerre abgeschlossener doppelter Kempa-Trick – schraubten die Gastgeber das Ergebnis auf 25:20. Fortan war die Meisterschaft in der Region Flensburg ein heißes Thema. Die SG distanzierte den Widersacher immer deutlicher. Während der THW zu Hause gegen TUSEM Essen einen Zähler einbüßte, demontierte der Nordrivale die Westdeutschen einige Wochen später mit 30:11. Zwischenzeitlich betrug der Vorsprung auf die „Zebras“ satte fünf Punkte.

Wichtige Spiele gegen westfälische Klubs
Zu diesem Zeitpunkt lag zwischen der SG und Lemgo nur ein einziger Zähler. Das Gipfeltreffen mit den Westfalen löste eine riesige Resonanz aus. Selbst die ARD-Tagesschau verkündete am 20. Februar 1999 in ihrer 20 Uhr-Ausgabe das Endergebnis: das Ende der „schwarze Serie” gegen den Angstgegner. Die letzte Spielminute: Lemgo hatte den Ball, ein Unentschieden drohte. Ein Wurf war leichte Beute für Jan Holpert. Im Gegenzug erlöste Morten Bjerre mit dem 22:20 den Anhang. Auch die anwesende Ministerpräsidentin Heide Simonis atmete tief durch: „Das war ja aufregender als Wahlkampf!“ Die Optimisten träumten vom Double; denn auch im City-Cup lief es nach Plan. Im Halbfinale führte allerdings Hitchcock Regie. Das dünne Polster von 25:22 machte eine Zitterpartie aus der zweiten Begegnung gegen den TuS Nettelstedt. Als die Westfalen mit 24:22 in Führung gingen, hing der Finaleinzug am seidenen Pfaden. Dann rutschte ein Kreisanspiel der Hausherren durch und landete bei Søren Haagen. Sein kühler Pass erreichte Igor Lavrov, der alle Zweifel beseitigte.

City-Cup in Ciudad Real
In der Bundesliga hatten sich 22:0 Punkte in Folge angehäuft, als sich plötzlich doch Schwächen auftaten. In Großwallstadt gab es nichts zu holen, in Niederwürzbach missglückte die Schlussphase. Der THW rückte heran. Bei der SG drehte sich alles um Ciudad Real, dem Endspiel-Gegner im City-Cup. In der Fördehalle glückte nur ein 27:27. Während einige Spieler über ihre Formschwäche rätselten, kündigte Erik Veje Rasmussen an: „In dieser Woche wird es kein Kuchenbacken und keine Ausflüge in die Natur geben. Wir werden über die Aufgabenverteilung reden müssen.” Am 18. April 1999 stellte sich heraus, woran der Coach gefeilt hatte. Denn immer wieder scheiterte Ciudad Real an der hervorragend eingestellten SG Deckung oder an Jan Holpert, der eine Sternstunde erlebte. Im „Pavillon Santa Maria“ wurde es immer stiller. Ganze 14 Minuten dauerte es, bis die Gastgeber erstmals trafen. Zu einem Zeitpunkt, als die SG schon sieben Torerfolge verbucht hatte. Das Fundament für den Erfolg war gelegt. Der zweite Europacup-Sieg nach 1997 war perfekt. Im SG Lager herrschte allerdings nur gedämpfte Freude. Nicht etwa aus Geringschätzung des Wettbewerbs, vielmehr aus Respekt vor der kommenden Aufgabe. Die Gedanken bewegten sich nach Kiel, wo nur drei Tage später das „Meisterschaftsfinale” stattfand.

Das „Endspiel“ von Kiel
Angesichts eines mickrigen Ein-Punkte-Vorsprungs war die Ausgangslage klar: Mindestens ein Remis musste her, um den THW auf Distanz zu halten. Die 5:1-Abwehr ließ allerdings jegliche Stabilität vermissen, sodass die SG zur Pause nahezu aussichtslos mit 9:15 zurücklag. Der angeschlagene Matthias Hahn bis die Zähne zusammen und warf sich ins Getümmel. Das Aufbäumen mündete im 19:19-Ausgleich. Dachten alle, aber die Referees verwehrten dem Treffer die Anerkennung. Als die Kieler im Gegenzug wieder erhöhten, war der Widerstand gebrochen. Letztendlich stürzte der THW mit einem 24:19-Erfolg den Landesrivalen vom Bundesliga-Thron und ließ sich vom Publikum bereits als den kommenden Meister feiern. Nach dem letzten Spieltag am 2. Mai 1999 war dieser Ausgang offiziell. Tags darauf bilanzierte Erik Veje Rasmussen bei der Abschlussfeier auf dem Südermarkt: „Wir haben in dieser Saison drei Titel errungen: den Europapokal, den Fair-Play-Pokal, und die mit Abstand besten Fans der Liga haben wir auch!”

Folge 9 am Mittwoch: Der Super-Vize