Das Tal der Tränen

- 30 Jahre SG Flensburg-Handewitt, Folge 26

Der überraschende Besuch machte sich lautstark bemerkbar. „Einmal Flensburg, immer Flensburg“, skandierten die Fans. Einige brachten Transparente mit. Die Stadt war in Aufregung, nur noch vier Tage waren es bis zum entscheidenden Spiel gegen die Rhein-Neckar Löwen. Ein Sieg – und die zweite deutsche Meisterschaft wäre für die SG Flensburg-Handewitt so nah wie lange nicht mehr. Am 28. Mai 2017 setzte sich am Südermarkt ein Fan-Marsch mit rund 400 Teilnehmern in Bewegung. Es waren nun nur noch wenige Stunden bis zur Entscheidung in der „Hölle“ Nord.

Die SG hatte schon vor der Saison zu den großen Favoriten gehört. Eine Rückrunde ohne Niederlage sowie die Harmonie in Abwehr und Offensive waren für die Experten beeindruckende Hinweise auf eine enorme Leistungskraft. Der Kader war fast unverändert geblieben. Nur Kresimir Kozina war gen Göppingen abgewandert. Fragezeichen gab es vor dem Start dennoch: So musste die ersten Monate ohne Rasmus Lauge geplant werden. Deshalb verpflichtete die SG den Rückraumspieler Ivan Horvat. Unklar war auch, wie sich die Olympischen Spiele von Rio de Janeiro auswirken würden. Die verliefen sehr erfolgreich: Lasse Svan und Henrik Toft Hansen gewannen mit Dänemark sogar Gold. Kentin Mahé errang mit Frankreich immerhin Silber. Dieses Trio wie auch die vier Schweden der SG verpassten praktisch die gesamte Vorbereitung.

Guter Start und eine „Monster-Gruppe“
Der Start gelang. Glatten Siegen gegen Erlangen und in Hannover folgte ein Krimi gegen Magdeburg. Erst ein Siebenmeter von Kentin Mahé rettete den 26:25-Erfolg. Dafür agierte die SG bei den Rhein-Neckar Löwen umso dominanter, verdiente sich nach dem souveränen 21:17-Erfolg gerade in der Defensive beste Noten. In der Champions League wartete eine „Monster-Gruppe“. Gegen Veszprém war noch ein Remis drin. Gegen Barcelona schlidderten die Nordlichter an einem Punkt vorbei. In Paris war nichts zu holen, und die SG testete über einen längeren Zeitraum Spielzüge mit sieben Feldspielern. Dagegen war gegen Wisla Plock ein Sieg Pflicht. Als nach einem 1:7-Fehlstart ein kapitaler Rückschlag drohte und die „Hölle Nord“ vor sich hin schlummerte, brüllte Ljubomir Vranjes: „Wo ist die Halle?“ Die antwortete mit stehenden Ovationen. In der Pressekonferenz legte der Trainer nach. „Wir spielen alle drei Tage“, sagte er. „Da möchte ich sehen, wie die Zuschauer für meine Mannschaft aufstehen. Wer das nicht möchte, kann sich auch zu Hause vor den Fernseher setzen.“

Ein verflixter Siebenmeter
Während sich die SG in der Champions League im Mittelfeld eingruppierte, war sie in der Bundesliga das Maß aller Dinge. Gegen Göppingen gelang der neunte Sieg, der interne Startrekord war auf 18:0 Punkte angewachsen. Die nächste Bewährungsprobe lauerte am 13. November 2016 in Kiel. Im Landesderby lief es zunächst blendend. 8:14 lautete der Zwischenstand für die Gäste. Dann häuften sich die Fehler. Mit dem Schlusspfiff – es stand 24:23 für Kiel – war dennoch ein Punkt zum Greifen nah. Anders Eggert trat an. Der Ball flog am chancenlosen Andreas Wolff vorbei – und landete nur am Innenpfosten. Das Unentschieden war haarscharf verpasst. Die Zeit für die Revanche kam ungewöhnlich schnell. Die Organisatoren der Champions League hatten zur Hälfte der Gruppenphase gleich zwei Mal das Landesderby eingestreut. Die Strategie, einige Leistungsträger zu schonen und anderen Akteuren große Spielanteile einzuräumen, um die Mannschaft als Ganzes weiterzuentwickeln, ging besser auf, als es sich die kühnsten Optimisten erträumt hätten. 400 mitgereiste Fans feierten in der Landeshauptstadt einen 30:22-Erfolg. Drei Tage später sah schon wieder alles anders aus. Diesmal freute sich der THW Kiel über ein 26:25.

Spekulationen um Ljubomir Vranjes
In der Bundesliga rollte indes die Jubelwelle weiter. Als letzte große Hürde der Hinrunde bauten sich die Füchse Berlin auf. Sie traten ersatzgeschwächt an, setzten dem Spitzenreiter aber erheblich zu. Die SG zog den Kopf gerade so aus der Schlinge und gewann mit 27:26. Mit 32:2 Zählern – in der Klubhistorie bis dahin nicht erreicht – wanderte die Herbstmeisterschaft unter den Flensburger Weihnachtsbaum. Ein saftiger Braten kam bei den Handballer nicht auf den Tisch. Am 27. Dezember 2016 mussten sie bei der MT Melsungen antreten. In einer teilweise hitzigen Partie konnte sich kein Team absetzen. 24:24 – der dritte Punktverlust rückte schnell in den Hintergrund, als Ljubomir Vranjes im TV-Interview das Interesse von Telekom Veszprém an seiner Person bestätigte. Fünf Wochen lang schossen die Spekulationen ins Kraut, dann erteilte die SG die Freigabe. Etliche Fans fragten sich: Wird die Mannschaft den Fokus auf die angepeilte Meisterschaft behalten? Schon das erste Pflichtspiel nach der Weltmeisterschaft erwies sich als Feuertaufe. Der THW Kiel lief in der „Hölle Nord“ auf. Als Matchwinner entpuppte sich ausgerechnet Kentin Mahé, der einzige aktuelle Weltmeister der Bundesliga. Der Franzose hatte schon sieben Tore geworfen, als der Ball nach einem Wurf von Holger Glandorf vom Innenpfosten abprallte. Kentin Mahé stand goldrichtig und schob zum 30:29-Siegtreffer ein.

Ein Rekordsieg und ein Drahtseilakt
Zwei Hiobsbotschaften trübten die Stimmung. Abwehrchef Tobias Karlsson hatte einen Sehneneinriss erlitten und fehlte einige Wochen. Auch Johan Jakobsson fiel länger aus – wegen einer schweren Gehirnerschütterung. Die Verantwortlichen suchten eifrig nach einem Linkshänder-Ersatz und entschieden sich für Mark Bult vom VfL Gummersbach. Der Niederländer war schon dabei, als die SG mit dem 41:17 in Minden den höchsten Bundesliga-Sieg in der Vereinsgeschichte einfuhr. In der Champions League indes entpuppten sich Paris, Barcelona und Veszprém als zu schwere Aufgaben. Der Bundesligist musste sich mit Rang vier begnügen und bekam es im Achtelfinale mit Meshkov Brest zu tun. Die Aufgabe gegen den weißrussischen Meister war ein Drahtseilakt und blieb spannend bis zum Happyend im Rückspiel vor heimischer Kulisse.

Ein eintägiges Stimmungshoch
Zum siebten Mal in Folge hatte sich die SG für das Final Four um den DHB-Pokal qualifiziert. Das war noch keinem Klub gelungen. 1500 Fans bevölkerten am 8. April 2017 in roten T-Shirts den SG Block und verwandelten ihn gegen „Lieblingsgegner“ Rhein-Neckar Löwen in ein Stimmungshoch: ein 33:23-Schützenfest. „Der erste Hamburger Tag war wieder einmal ein Erlebnis“, schnalzte SG Geschäftsführer Dierk Schmäschke mit der Zunge. „Nun hoffen wir auf den zweiten Tag.“ In den ging die SG durchaus als Favorit, da sich der THW Kiel mit einem Arbeitssieg gegen Newcomer Leipzig ins Endspiel gemüht hatte. Doch dann zog die bewegliche und konsequente Abwehr der „Zebras“ der SG den Nerv. „Das tat weh, das war eine Enttäuschung“, gestand Tobias Karlsson. „Aber wir werden zurückgekommen, denn wir haben in dieser Saison noch etwas vor.“

Große Enttäuschung nach der „Löwenjagd“
Es häuften sich allerdings die Dämpfer. Zu Ostern führte die SG in Berlin lange Zeit, musste sich letztendlich aber mit 32:34 geschlagen geben. Im Viertelfinale der Champions League  erwies sich Vardar Skopje als übermächtiger Gegner. Dann war die Bundesliga wie Balsam für die Seelen. Mit vier Siegen blieb die SG in Lauerstellung hinter den Rhein-Neckar Löwen. Allerdings brach sich Holger Glandorf den Daumen und fiel für Monate aus. Am 28. Mai 2017 war der große Tag gekommen. „Wir hätten 15 000 Tickets verkaufen können“, spekulierte Dierk Schmäschke. „Die Euphorie in der Region ist riesig.“ Frenetischer Jubel eröffnete die „Löwenjagd“, aber nur beim 5:4 lag die SG in der Blitztabelle vorn. Sonst rannten die Gastgeber permanent einem Rückstand hinterher. Die Unruhe in der „Hölle Nord wuchs. 21:23 hieß es nach 60 Minuten. Die große Enttäuschung regierte. „Die Meisterschaft ist entschieden, es werden 14 lange Tage für uns“, stöhnte Lasse Svan.

Tränen des Abschieds
Drei Spiele waren es noch. Doch mental war die SG angeschlagen, verlor auch in Göppingen. Die zwölfte Vize-Meisterschaft war damit besiegelt. Ein Shitstorm brach in den „sozialen Medien“ los. Die SG Geschäftsstelle sah sich genötigt, einen sachlichen Umgang miteinander anzumahnen. „Man kann alles kritisch beobachten, aber persönliche Angriffe gehen gar nicht“, ärgerte sich Ljubomir Vranjes. „Wir haben alles versucht. Nie waren wir in den letzten Jahren so dicht an der Meisterschaft gewesen wie diesmal.“ Der Deckel flog nicht vom Kessel. Stattdessen erlebte die „Hölle Nord“ am 10. Juni 2017 eine Abschiedsgala erster Güte. Gegen die HSG Wetzlar erzielte Anders Eggert sein 2531. Tor für die SG. Es war sein letztes nach zehn Jahren. Nach dem Abpfiff mischte er sich unter die Fans auf der Nordtribüne, dann ernannte ihn der Beiratsvorsitzende Boy Meesenburg zum „Ehrenkapitän“. Auch Ljubomir Vranjes erntete viele Lobeshymnen. Wieder flossen viele Tränen – diesmal aber keine der Enttäuschung, sondern welche des Abschieds.

Folge 27 am Mittwoch: Plötzlich Meister!